Barmherzigkeit
Karl Hörmann
Lexikon der christlichen Moral

LChM 1969, Sp. 55-58


B. (lat. misericordia) ist Anteilnahme an der Not des Mitmenschen. In ihr betätigt sich die Nächstenliebe (vgl. Lk 10,37).

Die sittl. Pflicht der B. besteht schon v. Natur aus. Während das Heidentum alter u. neuer Prägung vielfach darauf vergessen hat, fordert die christl. Sittlichkeit eindeutig B. "Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen" (Mt 5,7). "Geht und lernet verstehen, was das heißt: Erbarmen will ich und nicht Opfer" (Mt 9,13; vgl. 12,7; 18,33; 23,23; Röm 12,8; Kol 3,12; Jak 7,17). "Denn das Gericht ist ohne Erbarmen für den, der kein Erbarmen geübt hat. Erbarmen jedoch triumphiert über das Gericht" (Jak 2,13). Schon das AT kündete als Weisung des Herrn: "Handelt ein jeder gütig und barmherzig an seinem Nächsten" (Sach 7,9). Christl. B. findet ihr erhabenstes Vorbild in Christus u. in Gott Vater. "Mich erbarmt des Volkes" (Mk 8,2). "Kommt zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid: ich will euch erquicken" (Mt 11,28). "Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist" (Lk 6,36). Bes. das NT läßt uns ja Gott als den Barmherzigen erkennen (Lk 1,78; Röm 9,16.23; 11,30-32; 12,1; 15,9; 2 Kor 1,3 u.a.).

Wie die Nächstenliebe im allg. darf sich deren Teilverwirklichung, die B., nicht auf ein inneres Anteilnehmen beschränken, sondern muß sich in der Tat bewähren. Die Pflicht, B. durch die Tat zu üben, wird selbstverständl. nur dann drängend, wenn dem Menschen wirkliche Not begegnet u. wenn er die Möglichkeit hat zu helfen. Je schwerer die Not u. je größer die Hilfsmöglichkeit, umso drängender die Pflicht, hilfreich einzugreifen. Je nach der Art der Not, in der sich der Mitmensch befindet, werden leibliche u. geistige Werke der B. unterschieden.

Zu den leibl. Werken der B. zählen (vgl. Mt 25,35 f.42 f): Hungrige speisen, Durstige tränken, Fremde beherbergen, für die Kleidung Dürftiger sorgen, die Kranken besuchen, sich um die Not Gefangener annehmen. Jesus unterstreicht ihre Wichtigkeit: Seligkeit u. Verdammung hängen davon ab, ob der Mensch in solchem Tun zum Liebenden geworden ist (Mt 25,34 f.41 f; vgl. 2. Vat. Konz., Apostolicam actuositatem 8). Beispiele geistiger Werke der Barmherzigkeit sind: Unwissende belehren, den Zweifelnden recht raten, Betrübte trösten, Sünder zurechtweisen. Wenn das Liebesgebot verpflichtet, das leibl. Wohl des Nächsten zu fördern, dann umsomehr das geistige Wohl, das noch größere Bedeutung hat. Diese Betätigung der Nächstenliebe ist hervorragende Aufgabe christlichen Apostolats.


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