Klugheit
Karl Hörmann
Lexikon der christlichen Moral

LChM 1976, Sp. 894 f


1. Die Kardinaltugend der K. (prudentia) kann als die Fertigkeit des Menschen verstanden werden, in der konkreten Situation das sittl. Richtige zu finden.

Die K. hilft dem Menschen zur richtigen Erkenntnis der Situation u. zum richtigen Entscheid des Gewissens. Sie zeigt ihm auch seine eigene geistige Verfassung, läßt es ihm z.B. bewußt werden, wenn er von sich aus nicht fähig ist, das richtige sittl. Urteil zu finden, u. leitet ihn an, mit Hilfe anderer die sittl. Erkenntnis zu gewinnen u. zu einem richtigen Handeln zu gelangen. Sie läßt ihn ferner überlegen, wie unter den gegebenen Umständen das Gute am besten verwirklicht werden kann, läßt ihn planend, umsichtig u. behutsam ans Werk gehen.

Mag das sittl. Urteil zunächst dem Verstand zustehen u. mag man daher die K. als Tugend des Verstandes (Aristoteles) bezeichnen, so kommt es für den Einsatz des Verstandes u. für die Ausführung des Erkannten doch auf den Willen an. Die K. kann daher mit Recht auch als sittl. (= Willens-) Tugend bezeichnet u. als Bereitschaft zur sorgfältigen Gewinnung eines richtigen Urteiles u. zu seiner Ausführung aufgefaßt werden.


2. Der Wert u. die Notwendigkeit der K. ergibt sich aus der Erkenntnis, daß es nicht genügt, das Gute zwar im allg. zu wollen, aber es nicht konkret ins Auge zu fassen; zur Verwirklichung ist Konkretheit notwendig. Die K. ist daher für das sittl. Leben unentbehrl.

Die Weisheitsbücher des AT u. die Gleichnisse des NT (Mt 24,36-51; 25,1-13) loben die K. Jesus, der mit zwölf Jahren durch seine K. in Staunen versetzt (Lk 2,47), fordert von seinen Jüngern: "Seid also klug wie die Schlangen u. ohne Falsch wie die Tauben" (Mt 10,16).


3. An dieser K. fehlt es dem Überstürzten, Unachtsamen, Nachlässigen, Unbeständigen. Christl. K. besteht auch nicht in bloßer Teil-K., die ihr Verhalten nur nach irdischen, wenn auch an sich nicht schlechten Zielen auszurichten u. diese am besten zu erreichen versteht. Diesem "Trachten des Fleisches" (Röm 8,6), der "Weisheit der Welt" (1 Kor 1,20), steht die christl. K. als "Trachten des Geistes" (Röm 8,6) gegenüber, das weiter blickt u. dort Gottes Kraft erkennt, wo die Welt nur die Torheit des Kreuzes sieht (1 Kor 1,18). Schon gar nicht darf christl. K. mit einer Schein-K. (Schlauheit, Verschlagenheit) verwechselt werden, die in der Wahl der Mittel keine sittl. Bedenken kennt. "Denn die Söhne dieser Welt sind ihresgleichen gegenüber klüger als die Söhne des Lichtes" (Lk 16,8). Diese Schlauheit ist nur in einem sehr beschränkten Sinn K., auf das Ganze gesehen aber höchste Unklugheit.

Wahre K. hat die ganze Wirklichkeit, Natur u. Übernatur, Zeit u. Ewigkeit im Auge. "Machet euch Freunde mit dem ungerechten Mammon, damit man euch, wenn er zu Ende geht, in die ewigen Zelte aufnimmt" (Lk 16,9). Sie stößt zu den letzten Zusammenhängen vor u. wird so zur Weisheit (vgl. 2. Vat. Konz., GS 15).


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