Nächstenliebe
Karl Hörmann
Lexikon der christlichen Moral

LChM 1976, Sp. 1110-1115


1. N. ist eine Grundforderung der christl. Sittlichkeit: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" (Mk 12,31; vgl. Mt 19,19; 22,39; Lk 10,27; 2 Joh 5; 2. Vat. Konz., GS 24 27 38). Jedes andere Gebot über das Verhalten zum Mitmenschen will in irgendeiner Hinsicht zur Verwirklichung der N. anleiten (Mt 22,40; Röm 13,8-10). Obwohl die Verpflichtung auf die N. außerh. des Offenbarungsbereiches u. im AT (vgl. Lev 19,18) nicht völlig unbekannt ist, kann Jesus doch sagen: "Ein neues Gebot gebe ich euch, daß ihr einander liebet; wie ich euch geliebt habe, sollt auch ihr einander lieben. Daran werden alle erkennen, daß ihr meine Jünger seid, wenn ihr untereinander Liebe habt" (Joh 13,34 f). Die christl. N. hat eben die Besonderheit (Eigenart der christl. Moral) u. ist in dieser Weise neu, daß sie aus der Christuszugehörigkeit, aus der in Christus erlangten Gottverbundenehit des Menschen erwächst, ja Mitlieben mit der Liebe Gottes ist, die in Christus dem Menschen zuteil wird. "Wenn einer behauptet: 'Ich liebe Gott', u. seinen Bruder haßt, dann ist er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder, den er vor Augen hat, nicht liebt, der vermag Gott, den er nicht gesehen hat, (erst recht) nicht zu lieben. Und wir haben dieses Gebot von ihm: Wer Gott liebt, soll auch seinen Bruder lieben" (1 Joh 4,20 f; vgl. 5,1). Da der Mensch der Liebe Gottes, an der er teilhaben soll, in Christus begegnet, zeigt sich in der N. deutl., daß der christl. Sittlichkeit die Nachfolge Christi wesentl. ist. "Das ist mein Gebot, daß ihr einander liebet, wie ich euch geliebt habe" (Joh 15,12; vgl. 13,15; 1 Joh 3,16). Christus "offenbart uns, 'daß Gott die Liebe ist' (1 Joh 4,8), u. belehrt uns zugleich, daß das Grundgesetz der menschl. Vervollkommnung u. desh. auch der Umwandlung der Welt das neue Gebot der Liebe ist. Denen also, die der göttl. Liebe glauben, gibt er die Sicherheit, daß allen Menschen der Weg der Liebe offensteht u. daß der Versuch, eine umfassende Brüderlichkeit herzustellen, nicht vergebl. ist" (GS 38; vgl. LG 42).

Von sonstiger Humanität od. Mitmenschlichkeit unterscheidet sich christl. N. dadurch, daß sie sich an der in Christus sich offenbarenden Liebe Gottes ausrichtet.


2. N., die sich an der Liebe Gottes orientiert, ist ganzheitl. Liebe.

In echter Gottesliebe wendet sich der Mensch mit allen Elementen seines Seins ("aus deinem ganzen Herzen u. aus deiner ganzen Seele u. aus deinem ganzen Denken u. aus ganzer Kraft", Mk 12,30) Gott zu u. stellt er sich auf den ein, der selbst ganz Liebe ist ("Gott ist Liebe", 1 Joh 4,8.16). Das ganzheitl. Eingehen auf den liebenden Gott zielt auf eine in zweifachem Sinn ganzheitl. N.: Der Liebende als Ganzer bejaht den Geliebten in seiner gottgewollten Ganzheit. Wenn man in der menschl. Ganzheit des Liebenden u. des Geliebten verschiedene "Schichten" unterscheiden kann u. muß, müssen sie alle in einer ganzheitl. Liebe zur ihrem Recht kommen. Die göttl.-gnadenhafte Agape umfängt dann die natürl. Liebe, die vom Personganzen zum Personganzen geht, die geistig-personale Philia, u. in ihr muß es auch den sinnen- u. gefühlsbetonten Eros geben (die Prägung der Begriffe scheint allerdings nicht abgeschlossen zu sein).


3. Die Orientierung an der Liebe Gottes braucht der Christ gerade dann, wenn er sich Menschen gegenüber sieht, die ihm nicht sehr liebenswürdig scheinen. Liebe besteht ihrem Wesen nach im Jasagen des Liebenden zur geliebten Person: zu ihrem Dasein, zu ihren schon bestehenden od. erst zu verwirklichenden Werten. Gottes Liebe wird nicht durch bestehende Werte hervorgerufen, sondern ruft Werte hervor; Gott liebt z.B. das atl Bundesvolk nicht wegen seiner Werte, sondern schafft in Liebe seine Werte.

Das Gebot sagt: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst". Mit dem Wie scheint Jesus weniger ein Maß anzugeben als eine Richtung: Wie jeder für sich selbst Dasein u. Entfaltung wünscht, soll er sie auch für den Mitmenschen bejahen. Die Aufgaben, an denen sich dieses Bejahen zu bewähren hat, hören nie auf. Wenn eine Leistung noch so bedeutend wäre, kann man durch sie das Gebot der N. doch nie derart erfüllen, daß nicht in Zukunft weiter etwas zu tun bliebe; das Gebot verlangt vielmehr ein ständiges Sichmühen in derselben Richtung (Richtungssittlichkeit). Wer N. übt, muß sich dessen bewußt sein, daß er sie weiter schuldet. "Bleibt niemand etwas schuldig, es sei denn die gegenseitige Liebe", Röm 13,8.


4. Einem Mißverständnis erliegt, wer meint, das Gebot der N. durch innere Bejahung des Mitmenschen (caritas affectiva) allein hinreichend erfüllen zu können. Das NT sagt klar, daß die N. ihre Vollverwirklichung nur durch entsprechendes Tun (caritas effectiva) erlangt. "Wenn einer die Güter der Welt besitzt u. seinen Bruder Not leiden sieht u. sein Herz vor ihm verschließt, wie kann in dem die Liebe Gottes bleiben? Liebe Kinder! Wir wollen nicht mit Worten lieben u. mit der Zunge, sondern in Tat u. Wahrheit" (1 Joh 3,17 f; vgl. Jak 2,15 f). Jesus fordert dienstbereite N. (Mt 20,26-28; Joh 13,13-17) u. bezeichnet als Maßstab dafür, ob jemand für die Ewigkeit bestehen kann od. verworden wird, sein Tun für die Not des Mitmenschen (Mt 25,34 f.41 f; vgl. GS 27).

Allerdings ist äußere Betriebsamkeit allein ohne innere Liebesgesinnung auch nicht Verwirklichung der von Christus aufgetragenen Liebe (vgl. 1 Kor 13,1-3).

Die Gesinnung muß sich freil. in der Tat bewähren, etwa durch Freundlichkeit u. Höflichkeit im Umgang; durch Güte in der Förderung der berechtigten Anliegen des Mitmenschen u. verantwortbare Milde in der Strafe; durch tatkräftige Hilfe für den Nächsten in seiner Not (Barmherzigkeit).


5. "Wer ist mein Nächster?" Durch das Gleichnis vom barmherzigen Samariter gibt Jesus die Antwort: jeder Mensch ohne Ausnahme (Lk 10,29-37). So verlangt er Liebe nicht nur zum Freund, sondern auch Feindesliebe (Mt 5,38-48). "Wir können aber Gott, den Vater aller, nicht anrufen, wenn wir irgendwelchen Menschen, die ja nach dem Ebenbild Gottes geschaffen sind, die brüderl. Haltung verweigern ... So wird also jeder Theorie od. Praxis das Fundament entzogen, die zw. Mensch u. Mensch, zw. Volk u. Volk bezügl. der Menschenwürde u. der daraus fließenden Rechte einen Unterschied macht. Desh. verwirft die Kirche jede Diskriminierung eines Menschen od. jeden Gewaltakt gegen ihn um seiner Rasse od. Farbe, seines Standes od. seiner Religion willen, weil dies dem Geist Christi widerspricht" (2. Vat. Konz., NA 5).

Gerade an der Erkenntnis, daß sich das Gebot der N. auf jeden Menschen erstreckt, wird klar, daß dieses Gebot ein Richtungsgebot ist. Der Mensch mit seinem beschränkten Können stößt in der Verwirklichung der N. bald an Grenzen. Wohl ist er zur Gesinnung der Liebe jedem Menschen gegenüber wenigstens so weit verpflichtet, daß er keinen ausdrückl. aus der N. ausschließt u. daß er bereit ist, für jeden das Entsprechende zu tun, wenn die Situation eine Forderung drängend werden läßt. In der Betätigung der N. erreicht der Mensch nur allzu rasch die Grenzen seiner Möglichkeiten: Schon innerl. kann er nicht jedem Mitmenschen seine liebende Aufmerksamkeit zuwenden u. noch weniger kann er sich für die Anliegen eines jeden Mitmenschen durch die Tat einsetzen. So bleibt ihm nichts anderes übrig, als für das Tun der N. eine kluge Auswahl zu treffen, etwa nach seiner näheren od. entfernteren Verbundenheit mit den Mitmenschen, nach der Größe ihrer Not, nach dem Rang der Werte, um die es für sie geht (vgl. Pflichtenkollision, Wert). Wenn sich z.B. mehrere Mitmenschen in gleicher Not befinden, drängt die N. den Menschen zur Hilfe für den, der ihm durch alle Gegebenheiten u. Fügungen am nächsten verbunden ist; bei gleicher Verbundenheit aber fordert die N. den Einsatz dort, wo die Not am größten ist.


6. Jedes Verhalten, das dem Auftrag der N. nicht entspricht, ist Sünde, wenn der Mensch dafür Verantwortung trägt.

Dazu zählt schon die Vernachlässigung der inneren Liebesgesinnung od. der äußeren Liebestat dort, wo sie gefordert ist.

In noch stärkerem Gegensatz zum sittl. Auftrag hinsichtl. des Nächsten steht jede Betätigung, die der Liebe widerspricht: im Inneren Haß u. Neid, Übelwollen u. Undank, im Äußeren Taten, die solche Gesinnung ausdrücken od. der Entfaltung der Werte des Mitmenschen entgegenwirken (Ärgernis, Verführung, Mithilfe zur Sünde).


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