Sünde
Karl Hörmann
Lexikon der christlichen Moral

LChM 1976, Sp. 1529-1544


Wenn Gott den Menschen zu einer Bestimmung berufen hat, erwartet er dazu das freie Ja des Menschen. Wer frei zustimmen kann, hat freil. auch die Möglichkeit, die Zustimmung zu verweigern. In solchem Nein besteht die S.

Es ist eine uralte Versuchung des Menschen, seine Schuld nicht wahrhaben zu wollen. Im S.nfallbericht der Genesis schiebt Adam die Schuld auf die Frau u. diese auf die Schlange (Gen 3,12 f). Heute verweist man zur Entschuldigung auf biolog., psycholog. od. soziolog. Faktoren. So schwer es im Einzelfall sein mag, das Ausmaß der Schuld festzustellen, darf man doch nicht übersehen, daß der zum Sünder gewordene Mensch sich häufig dadurch rechtfertigen will, daß er den S.ncharakter gewisser S.n leugnet od. den S.nbegriff überhaupt lächerl. machen will. Demgegenüber ist aber zu bedenken: "Wenn wir behaupten, wir hätten keine S., dann täuschen wir uns selbst, u. die Wahrheit ist nicht in uns" (1 Joh 1,8). Johannes macht darauf aufmerksam, daß man mit der allg. Leugnung der S. auch die Erlösung als nicht notwendig verwirft u. damit die Grundlagen des Christentums angreift: "Das Blut Jesu, seines Sohnes, reinigt uns von aller S. ... Wenn wir unsere S.n bekennen, dann ist er treu u. gerecht, so daß er uns die S.n erläßt u. uns von jegl. Ungerechtigkeit reinigt. Wenn wir behaupten, wir hätten nicht gesündigt, dann machen wir ihn zum Lügner, u. sein Wort ist nicht in uns" (1 Joh 1,7.9 f; vgl. Joh 3,19; 16,8). Wohl wäre es eine falsche Verkürzung, wollte man im Sinn einer sog. "S.nmystik" sagen, daß Gott seine Gnade nur dem gibt, der gesündigt hat; die Botschaft von der Erlösung jedoch hätte keinen Sinn, wenn es keine S. gäbe ("Denn er wird sein Volk von seinen S.n erlösen", Mt 1,21).

Wer die S. leugnen will, verstößt nicht nur gegen die Aussage der Offenbarung, sondern auch gegen die unmittelbare Erfahrung des einzelnen im bösen Gewissen u. die gleiche Erfahrung der ganzen Menschheit, die in der Literatur ihren Niederschlag gefunden hat. "Was uns aus der Offenbarung Gottes bekannt ist, steht mit der Erfahrung in Einklang: Der Mensch erfährt sich, wenn er in sein Herz schaut, auch zum Bösen geneigt u. verstrickt in vielfältige Übel, die nicht von seinem guten Schöpfer herkommen können" (2. Vat. Konz., GS 13).


I. Der Versuch, den Begriff der S. zu fassen, hat zu verschiedenen Ergebnissen geführt. S. ist ein so vielschichtiges Geschehen, daß es nicht in einer einzigen Definition eingefangen werden kann; vielmehr werden jeweils nur bestimmte Aspekte aufgewiesen.


1. In der antiken Mythologie wird des öftern von Menschen erzählt, die der S. wie einem Schicksal verfallen: Sie übertreten, ohne es zu wissen, die Gesetze der Götter u. verfallen so ihrem Fluch (Ödipus, Thyestes). Nach christl. Auffassung ist die S. ein sittl. Versagen, ein Verstoß gegen das sittl. Gesetz, nicht bloß die Nichtbeachtung magischer Verhaltensweisen od. kultischer Vorschriften. "Die S. ist die Gesetzlosigkeit" (1 Joh 3,4). Augustinus bestimmt sie als "Tat od. Wort od. Begehren entgegen dem ewigen Gesetz" (Contra Faustum XXII 27; PL 42,418; vgl. Thomas v. Aq., S.Th. 1 q.17 a.1; 1,2 q.71 a.6).

Dabei ist zu beachten: Das sittl. Gesetz ist das Gesetz der Liebe; zur Verwirklichung der Liebe ist der Mensch vom liebenden Gott gerufen; in der S. verweigert sich der Mensch also Gott, weigert er sich, zum Liebenden mit dem liebenden Gott u. in seinem Sinn zu werden. "Die Gebote: Du sollst nicht ehebrechen! Du sollst nicht töten! Du sollst nicht stehlen! Du sollst nicht begehren! u. was es sonst noch an Geboten geben mag, werden ja in diesem einen Wort zusammengefaßt: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst! Die Liebe fügt dem Nächsten nichts Böses zu" (Röm 13,9 f). Wenn auch als Nächstbetroffene vieler S.n Geschöpfe, im besonderen Menschen u. ihre Gemeinschaften, in der S. des Christen immer auch die Kirche, erscheint, richtet sich jede S. in den tiefsten Zusammenhängen gegen Gott. Gegen ihn, nicht bloß gegen ein sachl. Gesetz verstößt die S. (vgl. D 3891); es gibt keine S., die Widerspruch bloß gegen die vernünftige Natur u. die rechte Vernunft ("phil.") u. nicht zugleich gegen Gott ("theol." S.) wäre (vgl. D 2291).

S. ist auch wesentl. mehr als ein Verstoß gegen eine gesellschaftl. Verhaltensvorschrift; sie hat eine rel. Dimension, ist ein Nein zum Liebes- od. Heilsangebot Gottes an den Menschen. Mit dem Reifen der sittl.-rel. Persönlichkeit vertieft sich auch das Verständnis dessen, was S. ist.

Das AT zeigt die S. als unzulässige Selbstbehauptung des Menschen Gott gegenüber (Gen 3,1-24; Num 14,9; Dtn 28,15; 1 Sam 12,14), als Verfehlung gegen Gottes Willen (Gen 13,13; 20,6; 39,9; Ex 10,16; 32,33 u.a.), als Mißachtung (2 Sam 12,10; Jes 1,4; 43,24; Mal 1,6), ja als Haß Gottes (Ex 20,5; Dtn 5,9) u. als Greuel vor ihm (Lev 16,16; 18,26; Ri 20; Ps 50[51],6) u. Abfall von ihm (Jes 46,8; Jer 2,5-19; 5,6 f; 14,7; Hos 4,12); für Israel hatte sie den besonderen Charakter der Untreue gegen den Bundesgott (Jes 24,5; 48,8; Jer 3,20; 9,1; 11,10; Ez 16,59; Hos 3,1) u. zerbrach die Gemeinschaft mit ihm (Ex 32,33; Ps 68[69],29; Jes 59,2). Auch nach dem NT ist S. Nichtannahme Gottes (Joh 8,24; 15,22), Nichtbefolgen seines Wortes (Mt 7,24; Röm 1,21; 2,8; 11,30; Eph 2,2), Verstoß gegen seine Vaterliebe u. Aufkündigung der Gemeinschaft mit ihm (Lk 15,11-13), ja Feindschaft gegen Gott (Röm 5,10; 8,17; Eph 2,14; Kol 1,21; Joh 15,23-25). Nach Augustinus bedeutet S., daß der Mensch das geschöpfl. Gut, das ihn zu Gott hin fördern sollte, unabhängig von Gott genießen will (De doctr. chr. I 3; PL 34,20). "Ein Fehlgriff in der Wahl deines Gutes ist die S." (Augustinus, In Ps 102 en. 8; PL 37,1322).

Wenn sich der Mensch dem Liebesanruf Gottes verweigert, gefährdet er seine eigene Bestimmung, seinen eigentl. Wert; gefährdet er das Leben, zu dem er berufen ist: "Der Sold der S. ist der Tod, Gottes Gnadengeschenk aber ist ewiges Leben in Christus Jesus, unserem Herrn" (Röm 6,23). Dieses Wort ist nicht im Sinn einer äußeren Sanktion zu verstehen, sondern als Feststellung, daß sich der Mensch mit der Abkehr von Gott dem Tod, dem Nichts, der Sinnlosigkeit ausliefert. Das AT spricht von der S. als einem törichten Verhalten (Dtn 32,6; Jes 29,14), das Unheil auf die Erde herabbeschwört (Dtn 28,15-69; Jes 31,2). Das NT macht deutl., daß sich der Sünder dem Einfluß des Widersachers Gottes überläßt u. sein endgültiges Schicksal gefährdet (Mt 13,19; Lk 22,3.31; Joh 8,44; 1 Joh 3,8). "Die sündige Seele ist die schlechte Seele, schlecht in dem Maß, als sie vom höchsten Sein zum niederen herabsinkt u. dadurch selbst niedrig wird, u. je niedriger, umso näher dem Nichts" (Augustinus, Contra Secundum Man. 15; vgl. Conf. IV 12,19; PL 42,590; 32,701).


2. Wenn die S. als Verstoß gegen das sittl. Gesetz u. den dahinter stehenden Willen Gottes bestimmt wird, scheint vor allem das objektive Geschehen, das materiale od. sachl. Element der S. beachtet zu werden.

Aber schon das AT zeigt, daß sich das Nein zu Gottes Angebot u. Anruf grundlegend im "Herzen" des Menschen ereignet: Jahwe sah, "daß die Bosheit der Menschen auf Erden groß war u. alles Gedankengebilde ihres Herzens allzeit nur auf das Böse gerichtet war" (Gen 6,5). "Jenen aber, deren Herz den Scheusalen u. Greueln zugewandt ist, will ich ihren Wandel vergelten, Spruch Jahwes" "Ez 11,21; vgl. Gen 8,21; Ps 50[51],12; Jer 4,4; 5,23; Ez 11,19). Wenn das AT den Unterschied zw. materialer u. formaler S. andeutet (Ex 21,12.14; Lev 4,2.27; 5,4; Num 15,22.27; Ps 18[19],13; 24[25],7; Ijob 1,5; 13,26), schafft das NT volle Klarheit: "Aus dem Herzen kommen böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsches Zeugnis, Lästerung. Das ist es, was den Menschen verunreinigt" (Mt 15,19 f). Der Einsatz des Herzens aber setzt die Einsicht voraus: "Wer also Gutes zu tun weiß u. es nicht tut, für den ist es S." (Jak 4,17). "Alles aber, was nicht in gutem Glauben geschieht, ist S." (Röm 14,23).

Die persönl. od. formale od. subjektive S. kommt also nur durch das Herz, das innere Wollen, zustande. "Der Wille ist es, von dem sowohl S. ist als rechtes Leben" (Augustinus, Retr. I 9,4; PL 32,596). "Die S. ist mit dem Willen vollzogene Abkehr vom wandellosen Gut u. Hinwendung zu wandelbaren Gütern" (Augustinus, De lib. arb. II 19,53; vgl. Conf. VII 16,22; PL 32,1269.744). "Die S. ist nichts anderes als ein böser menschl. Akt" (Thomas v. Aq., S.Th. 1,2 q.71 a.6; vgl. 1 q.48 a.5).

Sündhaft ist daher eine Übertretung nur, wenn sie beabsichtigt od. ohne rechtfertigenden Grund mit in Kauf genommen wird (vgl. Handlung mit zweierlei Wirkung). Keine von selbst auftretende Regung kann S. sein, solange die Willenszustimmung fehlt. "Nicht schon durch die böse Begierde, sondern durch unsere Zustimmung sündigen wir" (Augustinus, In Ep. ad Rom. prop. 13-18; vgl. In Ps 118 en. serm. 3,1; Contra Secund. Man. 19; De cont. 14; Ambrosius, De parad. 8; PL 35,2066; 37,1507; 42,593 f; 40,370; 14,293 f). Niemand wird durch bloß materiale Übertretung des sittl. Gesetzes schuldig; umgekehrt aber kann es vorkommen, daß jemand aus Irrtum sündigt, ohne material gegen das sittl. Gesetz zu verstoßen (vgl. Gewissen).


3. Weil die S. wesentl. durch die innere Entscheidung begründet wird, gibt es rein innere S.n, denen kein äußerer Vollzug folgt. "Der böse Wille schon für sich allein ist sündhaft, auch wenn es nicht zur Tat kommt, das ist, wenn jemand nicht die Macht hat" (Augustinus, De spir. et litt. 31,54; PL 44,235; vgl. D 1680 1707 2113).


a) Die Begierde nach einem dem sittl. Gesetz widersprechenden Verhalten (sinnl. Regung) macht den Menschen nicht schon zum Sünder, wenn sie vor seiner Entscheidung von selbst auftritt, sondern erst, wenn er sie frei weckt od. bejaht. Diese Begierde, die "aus verkehrtem Willen entsteht" (Augustinus, Conf. VIII 5,10; PL 32,753), ist durch die beiden letzten Gebote des Dekalogs als S. kenntl. gemacht (Ex 20,17; Dtn 5,12).


b) Eine Bejahung der S. liegt auch in der Freude, dem überlegten Wohlgefallen an eigener od. fremder geschehener S., u. im freien wohlgefälligen Verweilen dabei. Wer noch dazu mit einer begangenen S. vor anderen prahlt, verfehlt sich auch gegen diese (vgl. Ärgernis).


4. Weil nur die eigene Entscheidung S. begründen kann, erheben sich Bedenken gegen den Begriff der Kollektivschuld. Anerkannt kann er nur in dem Sinn werden, daß jemand durch eigene Entscheidung in die Schuld einer Gruppe hineingezogen wird; nicht aber in dem Sinn, daß ihn schon die bloße Zugehörigkeit zu einer Gruppe schuldig macht, außer er hätte diese schon von vornherein als verbrecherisch erkannt u. wäre frei in sie eingetreten mit dem Vorhaben, in ihr mitzuwirken (vgl. Ez 18,2-4; Pius XII., UG 460 350 0 3878 f 4107 4258).

Hie u. da ist mit Kollektivschuld gemeint, daß jemand durch gesellschaftl. Verflechtungen in Gewissenskonflikte hineingezogen wird, aus denen er keinen rechten Ausweg sieht, od. daß sich in einer Gesellschaft Unrechtsstrukturen herausbilden können u. daß der einzelne daran mitschuldig sein kann (wenn man jedoch alles Böse nur den gesellschaftl. Strukturen u. nicht auch den einzelnen Menschen anlasten wollte, wäre das ein typischer Versuch, die eigentl. S. zu leugnen).


II. In allen S.n widerspricht der Mensch dem sittl. Gesetz u. dem dahinter stehenden Gott. Er kann dies aber mit verschiedenem Nachdruck u. in verschiedenen Punkten tun. Begründetermaßen kann man daher S.n unter verschiedenen Gesichtspunkten voneinander unterscheiden.


1. Unter rel. Gesichtspunkt ist die sog. theol. Unterscheidung die wichtigste. Sie nimmt auf den personalen Einsatz des Menschen in seiner Entscheidung gegen Gott Rücksicht.


a) Jede S. gefährdet das Leben der Gottverbundenheit, zu dem der Mensch berufen ist. Eine S., die den Menschen dieses Lebens ganz beraubt, wird herkömml. als schwere od. Tod-S. (peccatum grave, mortale, D 795 835 838 839 858 897 926 965 1002 1306 1577 1638 1680 2257 3375) bezeichnet. "Denn wenn die Begierlichkeit empfangen hat, gebiert sie die S.; die an ihr Ziel gelangte S. aber gebiert den Tod" (Jak 1,15). Paulus schreibt den Kolossern, daß sie durch ihre Vergehen tot waren (Kol 2,13). "Jede schwere S. gibt der Seele den Tod" (Gregor v. Nazianz, Oratio 37,23; vgl. Gregor v. Nyssa, Orat. cat. magna 8; PG 36,308; 45,40). In jeder schweren S. läßt es der Mensch ja an jener Lebe mangeln, die dem Leben mit Gott wesentl. ist. "Wer nicht liebt, bleibt im Tode" (1 Joh 3,14). So verläßt u. verliert der Mensch durch die S. Gott, stürzt er sich aus der Liebe in den Zorn Gottes (vgl. Ex 4,14; 15,7; 22,23; 32,10; Num 11,1.10; 12,9; Dtn 32,21 u.a.), "den zu verlassen Tod, den wieder aufzusuchen Neugeburt, in dem zu wohnen Leben ist" (Augustinus, Solil. I 3; vgl. Conf. IV 9,14; PL 32,870.699). "Jeder, der sündigt, stirbt; aber sosehr alle Menschen den Tod des Leibes fürchten, den Tod der Seele fürchten wenige" (Augustinus, In Io tr. 49,2, PL 35,1747).

Durch die Schuld der schweren S. verliert der Mensch das Leben der Gottgemeinschaft ("Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel u. vor dir; ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen", Lk 15,18.21; vgl. Jes 59,2; Joh 3,19-21; 9,30-33; D 1544 1680); die S. verträgt sich nicht mit dem Leben in Christus, mit der Gotteskindschaft (vgl. 1 Joh 3,6.10). Solange der Mensch in diesem Zustand bleibt, droht ihm all das, was sich als innere Sanktion daraus ergibt: das Verfehlen seiner ewigen Bestimmung (= die Verwerfung; Offb 21,27; 22,15; D 780 839 858 1002 1075 1306) mit allen Folgen (wesh. die S. für den Menschen das Übel schlechthin ist; vgl. Mk 9,42-49), das Zunichtewerden alles dessen, was in seinem bisherigen Leben auf die Erfüllung hingeordnet war (vgl. Verdienst); die Unfähigkeit, aus eigener Kraft die Gottgemeinschaft wieder zu erwerben; mancherlei Zerrissenheit u. Unausgefülltheit schon im irdischen Leben, das nicht gemäß seiner gottgegebenen Bestimmung gestaltet wird.

Solche Wirkungen kann die S. des Menschen nur haben, wenn ihr der Charakter der S. voll eignet, d.h. wenn der Mensch die Abwendung von Gott mit ganzem Einsatz der Person vollzieht. Dazu gehört, daß er sich der Bedeutung dessen, was er tut, hinreichend bewußt ist u. daß er sich mit einer im wesentl. ungehemmten Freiheit dafür entscheidet (in einem voll menschl. Akt; actus perfecte humanus).

Es kann vorkommen, daß der Mensch Kleinigkeiten zum Anlaß nachdrücklicher Auflehnung gegen Gott nimmt; dabei kommt es weniger auf diese Kleinigkeiten als auf die Grundeinstellung des Menschen zu Gott an. Im allg. aber ist eine ganzpersonale Entscheidung gegen Gott nur in Dingen mögl., die ihrer Beschaffenheit nach für die Verwirklichung der sittl. Ordnung (der Liebe) wichtig sind (materia gravis); wer ihre Bedeutung erfaßt hat u. sich frei für sie entscheidet, kommt um schwere S. nicht herum. Was dazu zählt, kann der Mensch durch eigene Überlegung, mit Hilfe der Hl. Schrift (S.n, die als todeswürdig bezeichnet werden, wie Götzendienst, Zauberei u. Gotteslästerung - Lev 20,2; 22,17; 24,11-16; Auflehnung gegen die Eltern - Lev 20,9; Menschenraub - Ex 21,16; verschiedene Unzucht-S.n - Lev 18,29; die "himmelschreienden" S.n Mord - Gen 4,10; 2 Makk 8,3, Sodomie - Gen 18,20 f; 19,13, Bedrückung von Hilflosen - Ex 3,7; 22,21 f, Vorenthaltung des verdienten Arbeitslohnes - Dtn 24,14 f; Jak 5,4; die verhängnisvolle Grund-S. wider den Hl. Geist - Mk 3,28 f; Lk 12,10, näml. der verstockte Unglaube, das Nichthören- u. Nichtannehmenwollen des Rufes Gottes in Christus - Jes 6,9 f; Mk 4,12; 8,18; Lk 10,13-15; 11,32; Joh 8,21; 9,39-41; 12,37-40; 16,9; Apg 28,23-28; Röm 11,8; 2 Thess 2,10-12; S.n, die vom Reich Gottes ausschließen - 1 Kor 6,9 f; Gal 5,19-21; Offb 21,27; 22,15; D 1544 1577), mit Hilfe der Lehre der Kirchenväter u. der Theologen u. durch Beachtung der Lehre u. der Praxis der Kirche (was die Kirche z.B. mit Strafe bedroht, sieht sie als schwere S. an; vgl. CICc. 2218 § 2; c. 2242 § 1) feststellen. Die Feststellung betrifft das objektive Element, nicht den subjektiven Vollzug.

Für den subjektiven Vollzug kommt es nicht unwesentl. auf die Grundhaltung des Menschen an; durch sie erhält die Einzeltat ihren Stellenwert. Allerdings werden Grundhaltungen durch Einzelentscheidungen, die den Charakter von Fundamentalentscheidungen haben, begründet.

Auch wichtige Verstöße gegen die sittl. Ordnung können noch verschiedenes Gewicht haben. "Der mich dir ausgeliefert hat, hat eine größere Schuld" (Joh 19,11), sagt Jesus zu Pilatus, dessen Verfehlung gewiß nicht leicht zu nehmen war. Ein Unterschied in der Schwere läßt sich auch aus der Steigerung der Strafe erkennen, die Jesus androht (Mt 5,22). Unglaube trotz Einsicht wird vom NT als Grund-S. aufgezeigt, die ärger ist als Unzucht (Mt 10,14 f; 11,20-24). Aus der Erwägung der verschiedenen Schwere beschwört Augustinus den Menschen, der von der S. nicht ganz abgebracht werden kann, doch wenigstens vom Gattenmord abzulassen u. sich mit dem kleineren Übel des Ehebruches zu begnügen (De coniug. ad. II 15, PL 40,481 f). Wenn im Licht der Offenbarung dem Unglauben grundlegender S.n-Charakter zukommt, erlangt die S. als Widerspruch gegen Gott im Gotteshaß ihre größte Ausdrücklichkeit.

Es gibt S.n, die ihrem Wesen nach die sittl. Ordnung so schwer stören, daß sie dem, der sich bewußt u. frei für sie entscheidet, in jedem Fall eine ganzpersonale Stellungnahme gegen Gott abverlangen, etwa Gotteslästerung od. Meineid (peccatum ex toto genere suo grave). Bei anderen ist es mögl., daß die Störung verschiedenes Ausmaß u. verschiedenen Tiefgang annimmt (etwa schwerer od. leichter Diebstahl); in gewissen Fällen begeht der Mensch sie daher für gewöhnl. mit ganzpersonalem Einsatz u. wird schwer schuldig, in anderen Fällen fehlt für gewöhnl. der volle Einsatz u. damit auch die schwere Schuld (p. ex genere suo grave; "admittit parvitatem materiae").


b) Von der Tod-S. unterscheidet sich die leichte od. läßl. (p. leve, veniale; D 1537 1573 1680 1707 1920 2257 3381) dadurch, daß sie nicht ganzpersonale Entscheidung gegen Gott ist, daher den Menschen nicht von Gott trennt, ihn nicht des Gnadenlebens beraubt (D 1537 1680; in neuerer Zeit wird sie in der rel. Unterweisung als "Wund-S." von der "Tod-S." abgehoben), aber immerhin dieses Leben in seiner Vollverwirklichung beeinträchtigt u. in einem gewissen Grad unerfüllt läßt, es in seinem Wachstum in die Glorie hinein hemmt u. mit dieser Schwächung den Menschen auch für schwere Formen der S. anfällig macht ("Wer im Kleinsten ungerecht ist, der ist auch im Großen ungerecht", Lk 16,10). Manche Arten schließen größere Gefahren in sich, manche geringere; die "Wunde" kann eben verschieden tief reichen.

Die Hl. Schrift läßt erkennen, daß nicht alle S.n den Charakter von Tod-S. haben. Das AT weiß von Jugend-S.n, die leichter verziehen werden können (Ps 24[25],7; Ijob 13,29). Jesus redet von der läßl. S. unter den Bildern des Splitters im Auge des Bruders (Mt 7,3), der Mücke (Mt 23,24), der Schuld von 100 Denaren (Mt 18,28). Die Worte der Apostel von der allg. Sündhaftigkeit ("In vielem verfehlen wir uns ja alle", Jak 3,2) scheinen auf läßl. S. gedeutet werden zu müssen; Johannes weiß von denen, die im Licht wandeln u. dennoch das Bekenntnis der S.n u. die Reinigung von ihnen durch Jesu Erlöserblut notwendig haben (1 Joh 1,7-10). Der Ausdruck "läßl. S.", der sagen will, daß diese S., weil weniger schuldhaft, leichter nachgelassen werden kann, findet sich in der Tradition schon bei Augustinus (Contra mend. 8,19; 21,41; CSEL 41,492.528), wenngleich erst die Scholastik zu einer vollkommeneren Begriffsklärung gelangt (vgl. Thomas v. Aq., S.Th. 1,2 q.88 aa.1.3). Die Kirche hat sich wiederholt zur Auffassung bekannt, daß auch die Gerechten im Erdenleben S.n begehen, ohne desh. aufzuhören, gerecht zu sein; sie hat diese als leichte, tägl. od. läßl. S.n bezeichnet (D 1537 1549 1573 u.a.).

Läßl. S. kommt dadurch zustande, daß der Mensch gegen die sittl. Ordnung (den göttl. Liebeswillen) zwar nicht ganz unpersönl. (nicht bloß in der Form eines Actus hominis), aber infolge der Schwerfälligkeit seiner geistig-sinnl. Natur doch auch nicht in ganzpersonaler Entscheidung (nicht in einem vollmenschl. Akt) verstößt (vgl. Thomas v. Aq. De malo q.7 a.1 ad 1). Die Ursache dafür mag darin liegen, daß der Mensch die sittl. Bedeutung seines Tuns nicht vollkommen erfaßt (dies kann sogar auf ein Verhalten zutreffen, das seiner Natur nach ein "peccatum ex toto genere suo grave" darstellt) od. Einflüssen unterliegt, die seine Freiheit nicht ganz zur Auswirkung kommen lassen. Der geringere personale Einsatz kann auch daher kommen, daß das Verhalten seiner Beschaffenheit nach den Eindruck des Geringfügigen (materia levis) erweckt, des den Menschen nicht ganz beansprucht. Diese Geringfügigkeit kann manchmal bei Dingen da sein, die in anderen Fällen große Bedeutung haben (p. ex genere suo leve od. grave). Das Tun kann aber auch so beschaffen sein, daß es anscheinend nie größere Bedeutung erlangt, wenn nicht neue Elemente hinzutreten (p. ex toto genere suo leve).


c) Die Unterscheidung in Tod-S. u. läßl. S. ist nicht unbestritten geblieben; Vernunftüberlegungen u. Aussagen der Offenbarung zeigen sie jedoch als berechtigt.

Unschwer läßt sich einsehen, daß sie der Wirklichkeit entspricht; es ist offenkundig nicht dasselbe, ob man jemandem ein ungeduldiges Wort sagt od. ihn umbringt.

Im NT unterscheidet Jesus zw. verschiedenen Graden der Schuld in den Gleichnisreden vom Splitter u. vom Balken (Mt 7,3-5), vom Seihen der Mücken u. vom Verschlucken des Kamels (Mt 23,24), von der Schuld der 10.000 Talente u. der 100 Denare (Mt 18,23-35). Es gibt S.n, die aus dem Reich Gottes ausschließen (vgl. 1 Kor 6,9 f), u. andere, die auch von Gerechten begangen werden, ohne daß diese aufhören, gerecht zu sein (vgl. Jak 3,2; 1 Joh 1,7-10; "Ja kein Mensch im Lande ist so gerecht, daß er nur Gutes täte u. nie sündigte", Koh 7,20). In der Tadition wurde diese Unterscheidung gewahrt: "Es gibt leichte, es gibt schwere S.n. Etwas anderes ist es, 10.000 Talente zu schulden, etwas anderes, einen Heller. Sowohl wegen eines müßigen Wortes als auch wegen Ehebruches werden wir schuldig befunden werden; aber Beschämtwerden u. Gefoltertwerden, Erröten u. lange Zeit Gequältwerden ist nicht dasselbe" (Hieronymus, Adv. Iov. II 30; 15,31; PL 23,341 f; vgl. Augustinus, Ep. 104,4/13, 33,394; Contra mend. 15,31, CSEL 45,511). Die Kirche hat die Meinung abgelehnt, jede S. sei Tod-S., läßl. S. gebe es nicht (D 1920; vgl. 838 1537 1638 1680 2257 3375 3381). Diese anscheinend strenge Auffassung schließt übrigens die Gefahr in sich, ins Gegenteil umzuschlagen: Man braucht keine S. schwerer zu nehmen als eine andere; alle sind gleich schwer od. gleich leicht u. verzeihl.; ein weiterer Schritt: Es gibt überhaupt keine S.

Die Scheidung der S.n in solche, die ihrer objektiven Beschaffenheit nach die sittl. Ordnung beträchtl. stören, u. solche, die es nur geringfügig tun, gelingt nicht immer restlos. Selbst wenn sie gelingt, ist damit noch nicht für den Einzelfall klargestellt, wie weit der, welcher eine bestimmte S. begeht, sich dabei personal einsetzt, wie weit er also tatsächl. schuldig wird (vgl. Augustinus, De civ. D. XXXI 27,5, PL 41,749 f).


2. Auch artmäßig (spezifisch) kann man die S.n voneinander unterscheiden (für das Bußsakrament ist das Bekenntnis der Tod-S.n nach ihrer Art u. den artändernden Umständen notwendig; D 1681 f 1707; CICc. 901) u. sich dabei auf verschiedene Unterscheidungsgründe stützen: auf die verschiedenen Gegenstände der S.n (Thomas v. Aq.), auf die verschiedenen Tugenden (Werte), gegen die sie verstoßen (J. Duns Scotus), auf die verschiedenen Gebote (u. die von ihnen ausgesprochenen Pflichten), die sie verletzen (Vasquez). In tieferer Sicht laufen alle diese Unterscheidungsgründe auf dasselbe hinaus: Durch die verschiedenen Gebote werden verschiedene Tugenden gefordert, die wieder verschiedene Gegenstandsbereiche haben. So mag es genügen, nur auf die beeinträchtigten Tugenden zu achten.

Jene S.n unterscheiden sich spezifisch voneinander, die sich gegen verschiedene Tugenden richten (Unglaube als Verweigerung des Glaubens ist etwas anderes als Verzweiflung, ein Versagen in der Hoffnung). Allerdings kann sich ein Verhalten zugleich gegen mehrere Tugenden richten (Verleumdung gegen Wahrhaftigkeit u. Gerechtigkeit).

Dieselbe Tugend kann einen großen Bereich umfassen, sodaß sich sachgemäß die S.n voneinander unterscheiden, die sie in verschiedenen Teilen ihres Bereiches verletzen (Mord u. Diebstahl richten sich gegen die Gerechtigkeit, aber in den verschiedenen Gütern des Leibeslebens u. des Eigentums).

Endl. kann sich bei manchen Tugenden eine begründete Unterscheidung von S.n daraus ergeben, daß diese die Tugendmitte in entgegengesetzter Richtung verlassen (Zuviel od. Zuwenig in der Nahrungsaufnahme).


3. Manchmal (etwa hinsichtl. des Bekenntnisses im Bußsakrament, D 1680 1707; CICc. 901) kann die Frage auftauchen, ob ein verwerfl. Verhalten als eine od. als mehrere S.n aufzufassen ist. Zahlenmäßig (numerisch) sind mehrere Handlungen, die sich gegen dieselbe Tugend im selben Bereich u. in derselben Richtung wenden, als mehrere S.n zu erachten, wenn sie nicht ein moralisches Ganzes bilden. Zur Einheit sind mehrere Handlungen zusammengeschlossen, wenn sie zu einem Unternehmen gehören, das seiner Natur nach mehrere Teilhandlungen umfaßt (die Vorbereitungen zum Diebstahl bilden mit dem Diebstahl selbst eine Einheit), od. wenn sich die Absicht des Handelnden auf sie als ein Ganzes bezieht (wenn jemand nach mißlungenen Versuchen immer wieder zum Diebstahl ansetzt, werden seine Unternehmungen durch andauernden Vorsatz zur Einheit zusammengefaßt).


III. Mögl. wird die S. nur auf dem Boden jener Freiheit des Menschen, die von der Offenbarung aufgezeigt wird, näml. der Freiheit, sich für od. gegen Gott als seinen Lebenssinn zu entscheiden u. diese Entscheidung in alle einzelnen Situationen hinein zu verwirklichen. Obwohl der von Gott beabsichtigte Sinn der Freiheit die freie Übernahme der Bestimmung des Menschen durch diesen ist, gehört zu ihrem Wesen notwendig auch die Möglichkeit der gegenteiligen Entscheidung. "Nicht gebrach es Gott an der Macht, den Menschen so zu schaffen, daß er nicht sündigen konnte; allein er zog es vor, ihn so zu schaffen, daß es bei ihm stünde zu sündigen, wenn er wollte, nicht zu sündigen, wenn er nicht wollte, indem er das eine verbot, das andere gebot. Auf diese Weise sollte er zuerst das gute Verdienst haben, nicht zu sündigen, u. später dann den gerechten Lohn, nicht sündigen zu können" (Augustinus, De cont. 16; vgl. 15.32; De civ. D. XI 17.18; In Ps 54 en. 4; PL 40,359.358 f.372; 41,331 f.332; 36,630 f).


Zum tatsächl. Entstehen der S. kommt es durch das ungeordnete Begehren des Menschen (Begierlichkeit), das von außen durch Gelegenheit u. Versuchung angestachelt wird.


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