Gottesverehrung
Karl Hörmann
Lexikon der christlichen Moral

LChM 1976, Sp. 774-782


I. In der Erfüllung der sittl. Lebensaufgabe des Menschen (Bestimmung) spielt die ausdrückl. G. eine wichtige Rolle.


1. Als Tugend der G. bezeichnet man die haltungsmäßige Willensbereitschaft des Menschen, Gott die Verehrung zu erweisen, die ihm wegen seiner höchsten Erhabenheit (Herrlichkeit) zukommt (vgl. Thomas v. Aq., S.Th. 2,2 q.81 aa. 1.2). G. (religio im engeren Sinn) ist eine Ausformung der Religion, wenn diese als Offenheit des Menschen für Gott verstanden wird (religio im weiteren Sinn: Religion; im engeren Sinn: G.; im engsten Sinn im Kirchenrecht: rel. Orden od. ordensähnl. Gemeinschaft).

Im Gefüge der Tugenden kann der G. ein eigener Platz zugewiesen werden. Es geht in ihr um das Ja des Menschen zur Herrlichkeit Gottes. Wenn im Glauben der Mensch sein umfassendes Ja zu Gott spricht, läßt er in der G. das Ja zur Herrlichkeit Gottes Gestalt annehmen; damit stellt er sich auf Gott ein, wie es der Liebe eigen ist, u. strebt er in der Hoffnung Gott zu. Die G. ist also von den göttl. Tugenden beseelt ("Fide, spe, caritate colendus est Deus", Augustinus, Ench. 3; PL 40,232). Da in ihr das Wesentliche des christl. Lebens aufscheint, kann sie der Würde nach vor den übrigen sittl. Tugenden gereiht werden (vgl. Thomas v. Aq., S.Th. 2,2 q.81 a.1; Alfons M. di Liguori, Homo Ap. IV 3,33).


2. Im AT wird Israel zur ganzheitl. Hingabe an den Bundesgott aufgerufen (vgl. Ex 20,2 f; Dtn 5,6 f). Die Verehrung der Herrlichkeit Jahwes (kebod jahwe; vgl. Ex 33,18; Lk 2,9) spielt darin eine wesentl. Rolle. "Der Sohn ehrt den Vater, u. der Knecht fürchtet den Herrn. Wenn ich nun Vater bin, wo ist meine Ehre? Wenn ich der Herr bin, wo ist die Furcht vor mit?" (Mal 1,6; Lactantius, Div. Inst. IV 28; PL 6,537: "Ihm als dem Herrn zu dienen u. als dem Vater zu folgen ist notwendig"). Die G. des Volkes Israel wird durch die rituellen (kultischen) Vorschriften geregelt (vgl. Alttestamentliche Ethik).

Das NT zeigt uns Jesus in seinem Bedachtsein auf die Ehre (doxa, timè) dessen, der ihn gesandt hat (Joh 7,18; 8,49; vgl. Röm 15,7); der Sohn verherrlicht den Vater (Joh 17,1.4). Im kultischen Sinn erscheint Christus als der Gott ehrende Hohepriester im Hebräerbrief (2,17; 5,1-5; 8,6; 9,15; 12,24; "Christus der Herr, als Priester aus den Menschen genommen" [vgl. Hebr 5,1-5] 2. Vat. Konz., LG 10; vgl. PO 1).

Auch die Christen sind darauf bedacht, Gott die Ehre zu geben (Röm 3,7; 1 Kor 10,31; 2 Kor 8,19 doxa). Christus fordert seine Jünger auf, Gott zu verherrlichen (Joh 15,8); Herodes Agrippa wird mit Todeskrankheit dafür geschlagen, "daß er nicht Gott die Ehre gegeben hatte" (Apg 12,23). Die Gläubigen sind mit dem gemeinsamen Priestertum ausgestattet, "um geistige Opfer darzubringen, die Gott wohlgefällig sind, durch Jesus Christus" (1 Petr 2,5; vgl. 2,9; Offb 1,6; 5,9 f; 20,6; LG 10 f; PO 2).


Das NT fordert vom Menschen, daß er durch sein ganzes Verhalten Gott ehre, wie Christus es getan hat (vgl. Joh 17,4). "Möget ihr also essen od. trinken od. sonst etwas tun: tut alles zur Ehre Gottes" (1 Kor 10,31; "Alles geschehe zur Ehre Gottes", Ignatius v. Ant., Pol. 5; "Was immer du tust, tue es gut, u. du hast Gott gelobt", Augustinus, In Ps 34 serm. 2, PL 36,341). Im besonderen sieht Paulus das außerordentl. charismatische Wirken mancher Christen auf die Ehre Gottes hingeordnet (1 Kor 14,25).

Das NT leitet aber auch dazu an, Gott ausdrückl. (formal) zu ehren. Es enthält eine Menge von Doxologien (Apg 11,18; 21,20; Röm 15,6; 2 Kor 9,13; Gal 1,24; 2 Thess 3,1; 1 Petr 4,16; Offb 15,4 doxazein; 1 Tim 1,17; 6,16; Offb 4,9.11; 5,12 f; 7,12). Eine letzte Vertiefung gibt das NT diesem Ehren (doxazein), wenn es kundtut, daß Gott Christus verherrlicht (Joh 7,39 u.ö.; Apg 3,13; 2 Thess 1,10.12; Hebr 5,5) u. den Menschen verherrlicht (Röm 8,17.30; 1 Kor 12,26; 2 Kor 3,10; 2 Thess 1,10.12): Gott zieht Christus, er zieht den Menschen in seine Doxa hinein, gibt ihnen daran Anteil; wenn der Mensch Gott verehrt, wird er eigentl. in Gottes Herrlichkeit hineingenommen.

Die ntl. G. (im weiteren u. im engeren Sinn) ist a) eschatologisch, da sie die atl. G. ablöst u. vollendet (vgl. Hebr), b) pneumatisch, da sie von der geisterfüllten Gemeinschaft der Kirche getragen wird, c) christologisch, da die Kirche der Mystische Leib Christi ist u. Christus in ihr die G. übt.

In der Kirche führt Christus seine G. fort (vgl. Pius XII., Enz. "Mediator Dei", D 3844-46; 2. Vat. Konz., SC 83). Sie erfüllt diese Aufgabe in den Hauptformen des eucharistischen Opfers, das ihr von Christus anvertraut wurde, u. der Sakramente (SC 47 f 59).


3. Für die G. kann kein Verständnis haben, wer nicht für Gott offen ist.


a) Der Mensch, der nur auf sich eingestellt ist, findet, daß er selbst von der G. keinen Vorteil habe. Um den Sinn der G. erfassen zu können, müßte er zum Glauben gelangen, d.h. dessen innewerden, daß Gott die überragende Wirklichkeit ist u. daß dem Menschen nichts anderes ziemt, als diese Wirklichkeit in ihrer einzigartigen Bedeutung anzuerkennen (sie zu ehren). Thomas v. Aq. meint, die G. sei für den Menschen durch natürl. Einsicht geboten ("de dictamine rationis naturalis", S.Th. 2,2 q.81 a.2 ad 3). Für seine Auffassung spricht die weite Verbreitung kultischer Akte (die freil. nicht immer dem hl. Gott, sondern häufig dem numinosen Heiligen gelten) in der Menschheit (Religion). Allerdings, sofern G. den Glauben voraussetzt, kann der Mensch, wie zum Glauben, auch zu ihr nur durch Gnade geführt werden. Überdies läßt die Offenbarung Gottes Verehrungswürdigkeit weit über alles natürl. Erkennen hinaus aufstrahlen.

Wenn der nur ichbezogene Mensch die G. mit der Begründung ablehnt, Gott gewinne durch sie nichts, muß man ihm zunächst recht geben. "Wer hat ihm zuerst gegeben, daß er es ihm vergelten müßte?" (Röm 11,35). "Wer hätte irgend zu eigen, was nicht das Deine wäre?" (Augustinus, Conf. I 4,4; PL 32,663). G. heißt jedoch nicht, daß wir Gott etwas geben; vielmehr machen wir uns in ihr bereit für seine Herrlichkeit, mit der er uns beschenken will. Dieses Offenwerden, das wir in der G. verwirklichen, ist für uns von höchster Bedeutung. "Denn uns nützt es, Gott zu verehren, nicht Gott selbst. Wenn er also einflößt u. lehrt, wie er zu ehren sei, tut er es nicht nur ohne sein Bedürfen, sondern zu unserem größten Nutzen" (Augustinus, Ep. 102,3; PL 33,377; vgl. Thomas v. Aq., S.Th. 2,2 q.81 aa. 5.6).


b) Für die G. hat auch kein Verständnis, wer (ohne Gott) nur auf den Mitmenschen eingestellt ist (bloße Mitmenschlichkeit, Intersubjektivität; ausschließl. "horizontale Dimension" der menschl. Beziehungen). Ihm müßte der Sinn dafür geöffnet werden, daß Nächstenliebe fragl. wird, wenn sie nicht in der Liebe Gottes geborgen ist; so könnte ihm die Bedeutung des Offenseins für Gott (der "vertikalen Dimension", die in der G. verwirklicht wird) aufgehen.


II. G. wird in inneren u. äußeren Akten betätigt.


1. Als sittl. Haltung (Tugend) verwirklicht sich G. grundlegend im Inneren des Menschen (Sittlichkeit). Sinnvoll kann sie nicht ohne innere Akte betätigt werden (vgl. Thomas v. Aq., S.Th. 2,2 q.81 a.7).

Beim Propheten tadelt Jahwe ein Volk, das ihn nur mit dem Mund u. den Lippen ehrt, dessen Herz aber fern von ihm bleibt (Jes 29,13).

Jesus erklärt der Samariterin, daß es nicht auf den Ort der Anbetung ankommt (Joh 4,21). "Aber es kommt die Stunde, u. sie ist jetzt da, wo die wahren Anbeter den Vater im Geist u. in der Wahrheit anbeten werden. Denn der Vater sucht solche Anbeter. Gott ist Geist, u. die anbeten, müssen im Geist u. in der Wahrheit anbeten" (Joh 4,23 f). Diese Worte bezeichnen zweifellos eine innere, geistige Verehrung, darüber hinaus aber eine G., wie sie dem neuen Lebensstand des Menschen entspricht, der aus dem Geist geboren (Joh 3,3-8) u. durch das Wort der Wahrheit geheiligt (Joh 17,17.19) ist; der Satz "Gott ist Geist" verweist nicht auf das immaterielle Wesen Gottes, sondern auf den Gott, der den Menschen mit seinem göttl. Leben erfüllt.

Jesus selbst lebt in der inneren Verbundenheit mit dem Vater u. in der Hingabe an ihn. "Darum spricht er bei seinem Eintritt in die Welt: ... Siehe, ich komme - in der Buchrolle steht von mir geschrieben -, deinen Willen zu tun, o Gott!" (Hebr 10,7). In dieser Bereitschaft verharrt er: "Meine Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat" (Joh 4,34).

Aus dieser Anbetung im Geist u. in der Wahrheit, dieser inneren Hingabe ("devotio", Thomas v. Aq., S.Th. 2,2 q.82) in der Nachfolge Christi heraus das gesamte Leben zu gestalten ist Aufgabe jedes Christen. "Wir müssen immer in Christus leben u. uns ihm ganz hingeben, damit in ihm, mit ihm u. durch ihn dem himmlischen Vater die gebührende Ehre gezollt werde" (Pius XII., D 3842). Diese Aufgabe ist nichts anderes als die Aufgabe der Gottesliebe unter anderem Aspekt.

Wie zum Liebenden kann der Mensch zum Anbeter "im Geist u. in der Wahrheit" nur werden, wenn er von Gott gezogen wird: "Niemand kann zu mir kommen, wenn ihn nicht der Vater, der mich gesandt hat, zieht" (Joh 6,44; vgl. Thomas v. Aq., S.Th. 2,2 q.82 aa. 2.3).


2. Bei aller Notwendigkeit der inneren Hingabe sind äußere Akte der G. nicht überflüssig.Wohl wird eine nur äußere G. ohne innere Anteilnahme des Menschen von den atl. Propheten zurückgewiesen (Jes 29,13 f). Opfer u. Feste ohne innere Zuwendung des Menschen zu Gott werden getadelt (Jes 1,11; Jer 7,21-23; Am 5,21-24). Jesus übernimmt das tadelnde Jes-Wort von der Verehrung mit Mund u. Lippen u. vom Fernbleiben des Herzens (Mt 15,7-9); er verurteilt die Heuchler, die nur beten, um den Menschen in die Augen zu fallen, u. verlangt das Gebet im Kämmerlein (Mt 6,5 f; vgl. Pius XII., D 3842).

Solche Worte sind jedoch nicht als Ablehnung jeglichen äußeren Kultes zu verstehen; vielmehr wollen sie zurechtweisen: Äußere Akte sind hohl, wenn das Herz nicht dabei ist; wenn es aber dabei ist, können sie berechtigt, ja sogar notwendig sein (vgl. Thomas v. Aq., S.Th. 2,2 a.86 a.7; S.c.G. 3,119). Natürl. kann man ihre Notwendigkeit nicht damit begründen, daß Gott sie brauchen würde. "Sollte ich essen vom Fleisch der Stiere, von Böcken trinken das Blut?" (Ps 49 [50],13).

Zu beachten ist vielmehr, daß der Mensch nicht ein reines Geistwesen ist, sondern Leib-Seele-Einheit, u. daß er als solche Gott ehren soll, näml. nicht nur in geistigen Akten, sondern auch in leibl. Ausdruck (vgl. Thomas v. Aq., S.Th. 2,2 q.101 a.2; S.c.G. 3,119).

Man kann in solcher Verleiblichung eine Auswirkung der Inkarnation Christi sehen. Gemäß dieser Verfassung des Menschen drängt das, was ihn im Herzen bewegt, nach sinnl. wahrnehmbarem Ausdruck. "Das sichtbare Opfer also ist Sakrament, d.h. 'hl. Zeichen', des unsichtbaren Opfers" (Augustinus, De civ. D. X 5; PL 41,282). Umgekehrt wird durch sinnl. wahrnehmbare Akte der Geist angeregt; selbst unsere Gotteserkenntnis geht von den Sinnen aus (vgl. Weish 13,5; Röm 1,20; Thomas v. Aq., S.Th. 2,2 q.86 a.7; C.c.G. 3,119). Völlig notwendig werden äußere Akte der G. für den Gemeinschaftsgottesdient, der sich ohne äußeres Geschehen nicht durchführen läßt.

Wer die äußeren Zeichen der G. als leer u. überflüssig verwerfen will, verkennt also die menschl. Natur. Die Kirche hat mehr als einmal einen einseitigen Spiritualismus abgelehnt (D 898 1656 2230 2233-35 2240 2633 2673 f). "Der gesamte Kult, den die Kirche Gott darbringt, muß sinnfällig u. innerl. sein" (Pius XII., D 3842).


III. Der Mensch kann seine G. durch ein ehrfürchtiges Gesamtverhalten od. auch in eigenen verehrenden Handlungen (Kultakten) ausdrücken.

Die Kultakte kann er als einzelner od. in Gemeinschaft mit anderen (Gemeinschaftsgottesdienst) üben; er kann sie unmittelbar od. mittelbar (auf dem Weg über Geschöpfe; Mittelbare Gottesverehrung) auf Gott beziehen.

Von den Kultakten ergeben sich manche aus einer Sachnotwendigkeit häufig (ordentlicherweise; vgl. Gebet), während andere nur selten (in außerordentl. Fällen) geübt werden (Gelübde, Eid, Beschwörung).


IV. Auf dem Gebiet der G. verfehlt sich, wer die dargelegte Pflicht (vgl. I 3) vernachlässigt. Man kann aber auch im Tun die rechte Grenze überschreiten u. sich so verfehlen, sei es durch eine bedenkl. Art der Verehrung Gottes (Aberglaube), sei es durch göttl. Verehrung nichtgöttl. Wesen (Götzendienst, Okkultismus). Derartige Entartungen werden vielfach unter dem Namen Aberglaube im weiteren Sinn (superstitio) zusammengefaßt. Wie der Ausdruck andeutet, liegt hier auch eine Verfehlung gegen den Glauben vor: Der Abergläubische öffnet sich nicht dem Anruf Gottes, sondern läßt an dessen Stelle andere (persönl. od. dingl.) Mächte treten, u. er nimmt von ihnen nicht den wahren Anruf Gottes, der im besonderen aus der Offenbarung durch die Kirche vermittelt wird, sondern einen verfälschenden Ersatz entgegen. Mit der so entstehenden falschen Überzeugung geht dann die verkehrte Religionsübung Hand in Hand. Im äußeren Tun mag der Aberglaube der echten G. manchmal ähnl. sein; dem inneren Gehalt nach steht er zu ihr in Gegensatz ("superstitio verae pietatis falsa imitatrix", Konz. v. Trient, Sess. 22; vgl. Augustinus, Serm. 9,9; PL 38,83-85; Thomas v. Aq., S.Th. 2,2 q.92 a.1).


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