Ärgernis
Karl Hörmann
Lexikon der christlichen Moral

LChM 1976, Sp. 72-75


1. Das Gebot der Nächstenliebe verlangt, daß man den Mitmenschen, soweit man kann, in seinem Bestand u. in seinen Werten fördert. Der wichtigste Wert des Menschen ist der eigentl. personale, der sittl. Wert. Der Liebesverpflichtung handelt entgegen, wer durch sein Verhalten einem anderen ungerechtfertigt zum Anlaß zur Sünde wird u. ihn so in seinem sittl. Wert mindert.

Für ein solches Verhalten hat das NT den Ausdruck Skandalon (das Stellholz in der Falle; dann ein Hindernis auf dem Boden, über das man fallen kann; im übertragenen Sinn ein Verhalten, das dem Mitmenschen sittl. Anstoß bereitet u. ihm Anlaß zur Sünde wird od. werden kann; vgl. Mt 18,6 f; Röm 16,17; 1 Joh 2,10; Offb 2,14). Skandalon wird im Deutschen mit Ä. übersetzt (von arg; das, was einem anderen Anstoß zur Sünde gibt u. ihn so ärger macht).


2. Zur sittl. Beurteilung des Ä.gebens hat man nicht nur auf die Sünde zu achten, die der Ä.nehmende begeht, sondern auch auf das, was der Ä.gebende tut, u. darauf, in welcher Absicht er es tut.


a) Es kann sein , daß jemand eine Sünde begeht u. voraussieht, daß er dadurch einem anderen Anstoß gibt, ebenfalls zu sündigen. Ein solches Verhalten ist abzulehnen, selbst wenn der Ä.gebende die Sünde des Ä.nehmenden nicht will (indirektes Ä.; dem Dieb kann es etwa unangenehm sein, daß er durch sein Beispiel einen anderen zum Stehlen bewegt u. dadurch die eigenen Aussichten schmälert); die Sünde, durch die Ä. gegeben wird, ist ja selbst abzulehnen. Verwerflicher handelt der Ä.gebende, wenn er beabsichtigt, durch das Beispiel seiner Sünde einen anderen zur Sünde zu bewegen (direktes Ä., nahe der Verführung). Jesus läßt erkennen, daß solches Ä. sehr schwer wiegen kann: "Wer aber einem von diesen Kleinen, die an mich glauben, Ä. gibt, dem wäre es besser, wenn ihm ein Mühlstein an den Hals gehängt u. er in die Tiefe des Meeres versenkt würde. Wehe der Welt wegen der Ä.se! Es müssen ja Ä.se kommen, aber wehe dem Menschen, durch den das Ä. kommt" (Mt 18,6 f).


b) Es kann aber sein, daß ein Verhalten in sich sittl. einwandfrei ist u. daß sich doch jemand dadurch zur Sünde anregen läßt, weil er es mißversteht od. weil er selbst dem Bösen zuneigt.

Wenn der Ä.gebende die Sünde des Ä.nehmenden voraussieht u. sie beabsichtigt (direktes Ä.), ist diese seine Absicht schlecht.

Wenn er aber keine solche schlechte Absicht hat, läßt der Geist des NT es dennoch nicht zu, daß er sich über das Ä.nehmen eines anderen (indirektes Ä.) einfach hinwegsetzt.

Paulus weiß z.B., daß das Essen von Fleisch, das unter das atl. Speiseverbot fällt, den Christen nicht unrein macht. Er weiß aber auch, daß nicht alle Judenchristen zu dieser Erkenntnis vorgedrungen sind, daß daher manche, wenn sie ihn solches Fleisch essen sehen, dieses Essen für Sünde halten u. dadurch angeregt werden, selbst auch etwas zu tun, was sie für Sünde halten (Ä.nehmen der Einfältigen, scandalum pusillorum). Die Nächstenliebe gebietet ihm, auf ihr Unverständnis Rücksicht zu nehmen u. sich dessen zu enthalten, woran sie aus Irrtum Ä. nehmen würden: "Es ist zwar alles rein; dennoch ist es Sünde für den, der durch sein Essen Anstoß gibt. Da ist es doch besser, kein Fleisch zu essen u. keinen Wein zu trinken u. überhaupt nichts zu tun, woran dein Bruder Anstoß nimmt od. sich ärgert od. schwach wird" (Röm 15,20 f; vgl. 14,13 f). Ein ähnl. Problem ist für Paulus das Essen von Fleisch, das von heidnischen Opfern stammt, wenn man durch das Essen den Eindruck der sündigen Teilnahme an den Opfern selbst erweckt u. dadurch den Unwissenden Anlaß zur Sünde bietet: "Wenn darum eine Speise meinem Bruder Ä. gibt, so will ich lieber in Ewigkeit kein Fleisch essen, um meinem Bruder kein Ä. zu geben" (1 Kor 8,13; vgl. 8,7-10). Der Liebe entspricht es also, von einem Verhalten, das der andere irrtüml. als anstößig empfindet, abzustehen, wenn man nicht einen entsprechend triftigen Grund dazu hat (vgl. Handlung mit zweierlei Wirkung).

Eher kann man sich über jenes Ä.nehmen hinwegsetzen, das in der Bosheit des Nehmenden begründet ist (pharisäisches Ä.nehmen). Die Liebe fordert auch hier eine gewisse Rücksicht, wenn auch nicht so weit wie gegenüber den Einfältigen. Triftige Gründe können jedoch das in sich einwandfreie, aber für den böswilligen Mitmenschen anstößige Verhalten rechtfertigen. Jesus verkehrt mit Sündern u. Zöllnern, heilt am Sabbat, bekennt seine Messianität u. Gottessohnschaft, obwohl die Pharisäer daran Ä. nehmen. Auf die Frage der Jünger: "Weißt du, daß die Pharisäer Anstoß genommen haben, als sie so reden hörten?" antwortet er: "Laßt sie! Sie sind blinde Führer von Blinden" (Mt 15,12.14). "Und selig ist, wer an mir nicht Anstoß nimmt" (Mt 11,6; vgl. Lk 7,23; Joh 6,60-67). Schließl. wird die ganze Botschaft Jesu für einen Großteil der Menschheit zum Anstoß u. ist dennoch zu verkünden (vgl. Lk 2,34; Mt 15,57; 16,21-23; 26,31; Gal 5,11; 1 Kor 1,23; Röm 9,33; 11,9; 1 Petr 2,8).


3. Die Liebe verlangt von dem, der ungerechtfertigt Ä. gegeben hat, daß er sich bemühe, den dadurch angerichteten Schaden nach Möglichkeit wiedergutzumachen.


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