Gewohnheit
Karl Hörmann
Lexikon der christlichen Moral

LChM 1976, Sp. 726-729


Für die Verwirklichung des sittl. Lebens u. für die Bildung von Normen spielt die G. eine nicht unbedeutende Rolle.


I. Der Einzelmensch, der eine Handlung wiederholt setzt, erwirbt dadurch die Fertigkeit, sie leicht u. rasch zu setzen, u. die Neigung, es zu tun. Eben die verstärkte u. eingewurzelte Fähigkeit u. Neigung nennt man G.


1. Diese kann manchmal so mächtig werden, daß man sie als zweite Natur des Menschen bezeichnet ("Mehr vermochte über mich das altgewohnte Schlechtere als das ungewohnte Bessere", Augustinus, Conf. VIII 11,25; vgl. VIII 5,10; De musica VI 7,19; PL 32,760 f.753.1173; Thomas v. Aq., S.Th. 1,2 q.78 a.2) G.en binden den Menschen in bestimmter Richtung u. machen ihm damit die Gegenentscheidung schwerer. Solange jedoch die G. selbst bejaht wird, ändert sie nichts an der Anrechenbarkeit von Verdienst u. Schuld (Sünde). Die Richtung, in der die G. den Menschen festlegt, kann gut od. böse sein.


2. Die gute G. (Tugend) drängt den Menschen zum guten Verhalten. Man könnte gegen sie das Bedenken haben, daß sie dem Menschen die Mühe der freien Entscheidung für das Gute abnimmt u. sein Tun dadurch den eigentl. menschl. u. sittl. Charakter verlieren läßt. Dieser Gefahr der Entsittlichung kann u. soll der Mensch dadurch vorbeugen, daß er von Zeit zu Zeit sein Verhalten auf seine Sinnhaftigkeit überprüft. Immer wieder bejahte Tugend verliert ihren Wert nicht, sondern ist ein Kennzeichen der sittl. durchgeformten Persönlichkeit, die es gelernt hat, auf das Gute bereitwillig anzusprechen.


3. Die böse G. (Laster) mag nicht selten die Willentlichkeit u. die Anrechenbarkeit sündhafter Handlungen herabsetzen. Selbstverständlich hat der G.ssünder die Pflicht, beharrlich an der Überwindung seiner G. zu arbeiten. Solange er sich mit der G. selbst zufriedengibt, kann er von der Verantwortung dafür nicht freigesprochen werden. Wenn er jedoch gegen seine G. ankämpft u. doch gelegentl. noch ihrem Einfluß erliegt, kann die Macht der G. die Schuld seiner Sünde mindern. Daß die Ausrottung böser G.en mögl. ist, zeigen viele Beispiele aus der Erfahrung. Der Seelenführer (Erzieher) des G.ssünders hat die Aufgabe, ihn in Güte u. Entschiedenheit immer wieder zum guten Streben aufzumuntern u. ihn darin zu unterstützen. Der Beichtvater kann den G.ssünder lossprechen, wenn er bei der Beichte guten Willen zeigt.


II. G.en können sich auch in Gemeinschaften bilden.


1. Gute G.en, die in Gemeinschaften od. Gesellschaftsschichten bestehen, können den dazu gehörenden Einzelmenschen das gute Verhalten erleichtern. Umgekehrt machen es weitverbreitete Laster dem Einzelmenschen schwer, gegen den Strom zu schwimmen. Verdienst u. Schuld hängen davon ab, wie weit der Mensch von der allg. Strömung getragen wird u. wie weit er selbst entscheiden u. seine Entscheidung durchsetzen kann.


2. Nicht selten kommt es vor, daß der menschl. Gesetzgeber nicht rasch genug ein Gesetz in der Weise ändert, wie es die Änderung der Verhältnisse erfordern würde. Die dem Gesetz Unterstehenden erkennen, daß die gesetzl. Vorschrift nicht mehr die Sache trifft; sie gehen desh. vom (menschl.) Gesetz, das sie nicht länger für verpflichtend halten, ab u. führen eine andere Übung in der Überzeugung ein, daß sie damit zwar nicht den Wortlaut des Gesetzes erfüllen, wohl aber das Sachrichtige tun. Weil sich eine G., die sich auf solche Art bildet, an das sittl. Richtige hält, kann sie zur (im Gewissen) verpflichtenden sittl. Norm werden.

Während die staatl. Gesetzbücher die G. als Quelle des Rechts nur teilweise u. zögernd anerkennen, tut es die Kirche nachdrückl. Sie geht von der Voraussetzung aus, daß der Gesetzgeber seiner Aufgabe gerecht werden will, das für das Gemeinwohl Richtige vorzuschreiben, daß er daher mit einer G. einverstanden ist, die dieses Richtige trifft. Für den Bereich des Kirchenrechtes sieht sie eine G. als rechtsgültig an, 1. wenn diese vernünftig ist, d.h. dem natürl. u. dem positiven göttl. Gesetz od. einer ausdrückl. Verwerfung durch das Kirchenrecht nicht widerspricht u. tatsächl. das Gemeinwohl fördert (vgl. CICc. 27 § 2); 2. wenn sie von einer gesetzesfähigen Gemeinschaft (einer Gemeinschaft von solcher Weite, daß gesetzl. Regelungen für sie sinnvoll u. notwendig sind; Beispiele sind die Gesamtkirche, eine Diözese, ein rel. Orden) eingeführt wird (CICc. 26); 3. wenn sie in der Absicht, Recht zu schaffen, einheitl. durch eine gewisse Zeit, näml. durch 40 aufeinanderfolgende Jahre geübt wird (CICc. 27 § 1; c. 28); 4. wenn der Gesetzgeber, der die G. kennt, ihr ausdrückl. od. stillschweigend (durch Unterlassen des mögl. Widerspruches) zustimmt (CICc. 25).

Einer solchen G. spricht die Kirche die Kraft zu, nicht nur eine bisher nicht bestehende Verpflichtung einzuführen (consuetudo praeter legem, CICc. 28), sondern auch eine bisher bestehende gesetzl. Verpflichtung abzuschaffen (c. contra legem, CICc. 27 § 1). Alle Kirchengesetze, auch durch frühere G.en geschaffene Verpflichtungen, können durch gegenteilige G.en abgeschafft werden; selbst wenn sie eine gegenteilige G. verbieten, ist es nicht ausgeschlossen, daß diese rechtsgültig wird, nur bedarf es dazu einer längeren (100jährigen od. unvordenkl.) Übung (CICc. 27 § 1).

Diese Kraft menschlicher G. erstreckt sich nur auf das menschl. Gesetz. Am (natürl. od. positiven) göttl. Gesetz kann sie selbstverständl. nichts ändern.


Zurück zum Index