Kultur
Karl Hörmann
Lexikon der christlichen Moral

LChM 1969, Sp. 725-730


1. Wenn man unter K. die entfaltende Pflege der Güter u. Werte der Natur, vor allem der menschlichen, durch den Menschen selbst versteht, ergibt sich, daß dieser nur durch sie zur Vollverwirklichung seines Menschseins gelangen kann (vgl. 2. Vat. Konz., Gaudium et spes 53 55). K., die der Mensch nur in Gemeinschaft mit anderen leisten kann, umfaßt dann

a) die Pflege u. Entfaltung der Anlagen, die der Mensch in Leib u. Seele trägt,

b) die Erforschung u. Beherrschung der Welt,

c) die menschlichere Gestaltung der Gesellschaft (in sittl. Verhalten u. Einrichtungen),

d) die Werke, in denen der Mensch die Geschehnisse seines geistigen Lebens ausdrückt, mitteilt u. auf Dauer festhält (Gaudium et spes 53).

Menschen verschiedener Orte u. verschiedener Zeiten unterscheiden sich voneinander in der Art, Sachen zu gebrauchen, Arbeit zu verrichten, sich selbst auszudrücken, Religion zu üben u. sich sittl. zu betätigen, Gesetze u. Rechtseinsrichtungen zu schaffen, Wissenschaft, Technik u. Kunst zu betreiben. So entstehen verschiedene Stile gemeinschaftl. Lebens, verschieden gestaltete Ordnungen der Lebensgüter, die als den Gemeinschaften eigentüml. Erbe weitergereicht werden. In diesem Sinn muß man v. einer Mehrzahl v. K.en sprechen. Jeder Mensch steht in einer bestimmten K. einer bestimmten Umwelt zu einer bestimmten Zeit u. empfängt ihre Werte, die er weiterentwickeln kann (vgl. Gaudium et spes 53). Heute freilich ist unter dem Einfluß der Natur-, der Geistes-, der Gesellschaftswissenschaften, der Technik u. der Massenmedien eine umfassende Menschheits-K. im Werden, als deren Merkmale genannt werden können:

a) Ausbildung des kritischen Urteilsvermögens durch die "exakten Wissenschaften",

b) tiefere Erklärung des menschl. Tuns durch die Einsichten der Psychologie,

c) Erkenntnis der Wandelbarkeit u. Entwicklung der Dinge durch die historischen Disziplinen,

d) Vereinheitlichung der Lebensgewohnheiten u. Sitten,

e) neue K. formen (Massen-K.) durch Industrialisierung, Urbanisierung u. andere Ursachen, die die Vergesellschaftung vorantreiben, daraus neues Lebensgefühl, neue Weisen des Handelns u. der Freizeitgestaltung,

f) verbreitete Kenntnis der verschiedenen K.formen durch Austausch zwischen Völkern u. Gesellschaftsschichten (vgl. Gaudium et spes 54).


2. Der christl. Sittlichkeit stellt die K. folgende Hauptprobleme: K. als Aufgabe des Christen, der Kirche, des Staates; Menschheits-K. u. Sonder-K.en.

a) Dem Christen scheint seine geoffenbarte Bestimmung nahezulegen, sich in Hoffnung nur auf sein jenseitiges Ziel auszurichten u. dem Leben in dieser Welt mit ihrer K. nicht viel Beachtung zu schenken. Wenn man jedoch erwägt, daß der Mensch sein Endziel nur durch Entfaltung dessen erreichen kann, was Gott in ihm niedergelegt hat, erkennt man, daß die Erfüllung dieser Bestimmung u. echte K., die die volle menschl. Persönlichkeit in rechter Ordnung ausbildet (vgl. Gaudium et spes 56), zusammenfallen. "Die Christen müssen auf der Pilgerschaft zur himmlischen Vaterstadt suchen u. sinnen, was oben ist (vgl. Kol. 3,1 f); dadurch wird jedoch die Bedeutung ihrer Aufgabe, zusammen mit allen Menschen am Aufbau einer menschlicheren Welt mitzuarbeiten, nicht gemindert, sondern gemehrt" (Gaudium et spes 57; vgl. Johannes XXIII., PT 156, AAS 1963, 299). Die K.tätigkeit des Menschen fügt sich in dessen Gesamtberufung ein, a.1) da sie in ihm den Sinn für die ihm eigene Aufgabe der verantwortl. Selbstgestaltung seines Lebens wachsen läßt (vgl. Gaudium et spes 55; Sittlichkeit),

a.2) da er durch sie gemäß dem Plan Gottes sich die Schöpfung unterwirft u. sie vervollkommnet, sich selbst bildet u. den Mitmenschen dient,

a.3) da er durch die Pflege der Wissenschaften u. Künste zum Wahren, Guten u. Schönen, zu umfassenderem Werturteil, ja zur Weisheit Gottes finden, sich v. der Versklavung an die Dinge lösen u. zur Anbetung u. Betrachtung des Schöpfers und zur Erkenntnis des Wortes Gottes bereit werden kann (vgl. Gaudium et spes 57).

Auf dem rechten Weg ist die K.pflege dann, wenn sie sich auf die Gesamtentfaltung der menschl. Person sowie auf das Wohl der Gemeinschaft u. der ganzen menschl. Gesellschaft ausrichtet, wenn sie also den Menschen dazu anleitet, ehrfürchtig nach tieferem Verstehen der Wirklichkeit u. entsprechendem Urteil zu streben u. den relig., sittl. u. sozialen Sinn auszubilden. Sie bedarf dazu der Möglichkeit, nach den Prinzipien des jeweiligen Gebietes frei die Wahrheit zu erforschen, Erkenntnisse zu verbreiten, das menschl. Können zu entfalten, muß allerdings immer die Rechte der Person u. der Gemeinschaft achten (vgl. Gaudium et spes 59; Leo XIII., D - [1879]). "Denn was wird es dem Menschen nützen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber sein Leben (den Sinn seines Lebens) verliert?" (Mt 16,26).

Das K.leben, besonders in seiner heutigen Gestalt, ist v. Schwierigkeiten u. Gefahren für die wesentl. Aufgabe des Menschen nicht frei. Die stets sich mehrenden Kontakte zwischen den einzelnen K.en ermöglichen einerseits einen fruchtbaren geistigen Austausch, bringen anderseits die Gefahr der Verwirrung innerhalb der K.gemeinschaften u. des unklugen Aufgebens überkommener Weisheit u. wertvoller Eigenarten. Mit der Entwicklung der einzelnen Disziplinen wird es immer schwieriger, zu einer gesunden Gesamtschau der Wirklichkeit zu gelangen. Der rasche Fortschritt v. Naturwissenschaften u. Technik kann zur Vernachlässigung der (überlieferten) geistigen Werte führen. Wenn man die Untersuchungsmethode der ersteren zur obersten Regel sämtlicher Wahrheitsfindung machen will, kann man nicht mehr zu den innersten Seinsgründen vordringen (bloßer Phänomenalismus, Agnostizismus). Der Mensch gerät in Gefahr, den heutigen Errungenschaften zuviel zu vertrauen u. das Suchen nach Höherem zu vernachlässigen. Die zu bejahende Eigengesetzlichkeit der einzelnen K.-gebiete kann im Sinn eines rein innerweltl. (religionsfeindl.) Humanismus mißdeutet werden (vgl. Gaudium et spes 57 f).

Solche Nachteile ergeben sich jedoch nicht notwendig aus der heutigen K., deren positive Werte nicht verkannt werden dürfen: Gewissenhaftigkeit im Wahrheitssuchen, organisierte Zusammenarbeit, Geist der internationalen Solidarität, wachsendes Wissen um die Verantwortung der Fachleute für den Dienst am Menschen und dessen Schutz, Bereitschaft zur Verbesserung der Lebensbedingungen aller (auch derer, die sich in ungünstiger Lage befinden). All das hat etwas v. jener erlösenden Umgestalung der Welt an sich, die das Evangelium verkündet (vgl. Gaudium et spes 57).

Weil wahre K. der wesentl. Bestimmung des Menschen entspricht, hat jeder Mensch ein Recht auf menschl. u. mitmenschl. K. (Menschenrechte). Grundlegend wird dieses Recht durch Vermittlung einer Grund-K. (Kampf gegen Analphabetismus) anerkannt u. erfüllt, die dem Menschen je nach seiner Begabung den Zugang zu den übrigen K.gütern eröffnet u. ihn befähigt, am Gemeinwohl der Menschheit verantwortl. mitzuarbeiten. Mit diesem Recht geht die Pflicht kultureller Tätigkeit (Bildung, Wissenserwerb) Hand in Hand (vgl. Gaudium et spes 60). Im besonderen ist der christl. Laie im Rahmen seines Weltauftrages zu wertvoller K.arbeit verpflichtet (vgl. Lumen gentium 36). Dem allg. Recht auf K. widerspricht jede Diskriminierung, etwa der Frau (Gaudium et spes 29) od. bestimmter Völker od. Gesellschaftsschichten (vgl. ebd. 9 67). Als besonders wichtige Aufgabe erscheint die Einführung der Jugend in das K.leben (vgl. Apostolicam actuositatem 12). Aus dem Recht des Menschen auf K. und seiner Gemeinschaftsanlage folgt sein Recht, sich mit anderen in Vereinigungen zur K.pflege zusammenzuschließen (vgl. Dignitatis humanae 4). Wenn die moderne K. den Glauben des Christen vor Probleme stellt, muß sie ihn nicht notwendig schädigen; vielmehr kann sie den Christen dazu anregen, daß er seinen Glauben genauer u. tiefer verstehen u. zeitgemäß verkünden lernt (die zweifache Erkenntnisordnung v. Glauben u. Vernunft bedeutet nicht einen Widerspruch; vgl. D 3015 3019 [1795 1799]; Gaudium et spes 59). Voraussetzung dafür ist allerdings eine genügende Kenntnis sowohl der jeweiligen Geistes-K. wie der christl. Lehre. Eine besondere Aufgabe fällt in diesem Dialog den Theologen zu (Gaudium et spes 62).

b) Die Kirche ist nicht an eine einzige K., etwa die jüdische, die hellenische, die abendländische, gebunden, muß vielmehr ihre Sendung in der jeweiligen K. mit deren Mitteln erfüllen ("Gehet hin u. machet alle Völker zu Jüngern", Mt 28,19; vgl. Gaudium et spes 44 58; Ad gentes 21 f; Unitatis redintegratio 19; Pius XII., UG 5124 f [DRM XVII 641 f]). Daher will sie, daß ihre Glaubensboten ein gediegenes Wissen u. richtiges Urteil über die K. ihres Arbeitsgebietes erwerben u. sie hochschätzen (Ad gentes 16 21 f). Wenn auch die Kirche nicht in erster Linie zur K.pflege berufen ist, steht sie doch mit den K.en in geistigem Austausch u. bietet sie ihnen (manchmal kraftvolle) Anregungen (vgl. Gaudium et spes 44 59; Leo XIII., D - [1879]; Pius XII., UG 5124 f [DRM -], wobei den kath. Universitäten besondere Aufgaben zufallen (vgl. 2. Vat. Konz., Gravissimum educationis 10).

c) Aufgabe des Staates ist es, in dem ihm aufgetragenen Ausmaß für das Gemeinwohl seiner Bevölkerung zu sorgen. Zweifellos gehört dazu auch die Förderung der K., jedoch nicht in dem Sinn, daß die Staatsgewalt den Inhalt der Kulturbetätigung festlegt (vielleicht noch dazu in Ausrichtung auf parteipolitische od. wirtschaftl. Ziele), vielmehr in dem Sinn, daß sie für die freie K.arbeit ihrer Bürger günstige (auch materielle) Voraussetzungen schafft (vgl. Gaudium et spes 59 75).

d) Die heutige Entwicklung auf eine einheitl. Menschheits-K. hin ist zu bejahen, stimmt sie doch mit der Tatsache u. der Notwendigkeit überein, daß die Völker der Welt immer mehr zu einer Einheit zusammenwachsen (Völkergemeinschaft). Sinn dieser Menschheits-K. ist es, jedem einzelnen Menschen, welchem Volk immer er angehört, ein volleres Menschsein zu ermöglichen. Sie dürfte daher nicht zu einer alle Unterschiede verwischenden inhaltsarmen Einheits-K. werden, sondern sollte die wertvollen kulturellen Eigenarten der Völker weiter gedeihen lassen (vgl. Gaudium et spes 44 56 61; Ad gentes 16; Pius XII., UG 2007 5117 5119 [DRM XIII 375 f, XVIII 159 f]).


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