Tötung (des Menschen)
Karl Hörmann
Lexikon der christlichen Moral

LChM 1976, Sp. 1592-1596


1. Daß zumindest schuldloses Menschenleben unantastbar bleiben muß, daß es dem Menschen also nicht zusteht, das Leben eines schuldlosen Mitmenschen zu beenden (auch nicht durch Unterlassung der pflichtgemäßen Sorge für ihn), ist Grundüberzeugung der Menschheit (vgl. Allg. Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen, 10.12.1948, Art. 3; Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte u. Grundfreiheiten, 4.11.1950, Art. 2; staatl. Strafbestimmungen gegen Mord, Totschlag, fahrlässige T.; D 3272; Pius XII., UG 1054 2239; Johannes XXIII., PT 11; 2. Vat. Konz., GS 27); die Frage, ob Abwehr von Unrecht bis zur T. dessen, der es ausübt, gehen darf, muß eigens untersucht werden (vgl. Notwehr, Todesstrafe, Krieg, Widerstand).

Die Offenbarungssittlichkeit bekennt sich zu dieser Grundüberzeugung. Das AT zeigt das Verbot der T. als wesentl. Weisung des Jahwebundes ("Du sollst nicht töten", Ex 20,13; Dtn 5,13) u. erklärt seinen Sinn: "Den Schuldlosen u. den, der Recht hat, sollst du nicht töten" (Ex 23,7). Als Gründe gibt es die Gottebenbildlichkeit des Menschen u. die Herrschaft Gottes über Leben u. Tod an. Der Mensch ist als Bild Gottes geschaffen; wer ihn tötet, vergreift sich am Bild Gottes u. verwirkt nach den Noegeboten dadurch sein eigenes Lebensrecht ("Wer Menschenblut vergießt, durch Menschen soll sein Blut vergossen werden. Denn nach dem Bild Gottes hat er den Menschen gemacht", Gen 9,6). Der Tötende greift ferner die Rechte Gottes an, der dem Menschen Leben u. Tod zuteilt ("Ich töte u. mache lebendig", Dtn 32,39). Das Verbot der T. gehört zu den atl Geboten, die auch im NT gelten (Mt 5,19.21; 19,18; Mk 10,19; Lk 18,20).

Die moraltheol. Reflexion über die T. geht davon aus, daß jedem Menschen das Leibesleben als die Zeit gegeben ist, in der er seiner Bestimmung entgegenreifen soll. Jeder Mensch hat die Pflicht, in diesem Leben zu bleiben, bis er von Gott daraus abberufen wird, u. zumindest jeder schuldlose Mensch hat das Recht, seiner weiteren Werdemöglichkeiten nicht beraubt zu werden.

Dieses Recht des Mitmenschen, das in dessen Personwürde gründet, zu achten ist Pflicht jedes Menschen. Wer dagegen verstößt, handelt ungerecht u. entgegen der Nächstenliebe zum Getöteten, oft auch zu dessen Verwandten (vgl. Thomas v. A., S.Th. 1,2 q.100 a.5 ad 5) u. maßt sich ein Recht Gottes an (vgl. Thomas v. A., S.Th. 2,2 q.64 a.6; 3 q.47 a.6 ad 3). Übrigens hätte es auch für die Gesellschaft verheerende Folgen, wenn die T. Schuldloser erlaubt wäre (vgl. Thomas v. A., S.Th. 3 q.47 a.6 ad 3).


2. Am schwersten vergreift sich am Leben des schuldlosen Mitmenschen, wer ihn vorbedacht u. absichtl. tötet (Mord = direkte T., homicidium directum). Solches Tun widerspricht geradlinig der Achtung vor dem Lebensrecht des Mitmenschen, die durch Gerechtigkeit u. Nächstenliebe gefordert wird.

Unterschiede in der Schuld der Täter mögen durch Unterschiede in der Motivierung u. in der Zurechnungsfähigkeit (vgl. Anrechenbarkeit) begründet sein.

Das AT kennzeichnet den Mord durch seine Bezeichnung als himmelschreiende Sünde (Gen 4,10) als schwerwiegende Störung der sittl. Ordnung; ebenso tut das NT, wenn es ihn zu den Sünden zählt, die vom Himmelreich ausschließen (Gal 5,12; vgl. Offb 21,8). "Ihr wißt, daß kein Mörder ewiges Leben als dauernden Besitz hat" (1 Joh 3,15). Auch von der christl. Tradition wird Mord als schwere Sünde verurteilt (vgl. Augustinus, Ep. 204,5; PL 33,940). Das AT sieht für den Mord die Todesstrafe vor (Gen 9,6; Ex 21,12; Lev 24,17.21; Num 35,16; Dtn 19,11 f). Die Kirche, die von den Anfängen an gegen den Mord als Kapitalsünde Maßnahmen ergriffen hat, unterstreicht seine Schwere auch heute, wenn sie ihn mit verschiedenen Strafen (CICc.2354) u. mit der Unfähigkeit zum Empfang u. zur Ausübung von Weihen (Irregularität ex delicto, c.985 n.4) bedroht u. ein Gotteshaus durch einen darin begangenen Mord als sakrilegisch verletzt ansieht (c.1172 §1).

Alle Überlegungen, die die Moraltheologie im Anschluß an natürl. sittl. Einsichten u. an den sittl. Gehalt von Schrift u. christl. Überlieferung angestellt hat, haben zur Überzeugung geführt, daß es nie erlaubt sein kann, einen schuldlosen Menschen direkt (vorbedacht u. absichtl.) zu töten.

Wenn man mit dieser Überzeugung ernst macht, bleibt schuldloses Menschenleben in jedem Stadium seiner Entwicklung dem absichtl. tötenden Zugriff sittl. entzogen: in den Anfängen (direkte Abtreibung, Kindestötung), in Konfliktsituationen (T. von Geiseln im Krieg, Duell), im Verfall (Euthanasie im Sinn von direkter T.); der Herzstich (punctio cordis; ähnl. die Öffnung einer Arterie) z.B., den manche Menschen aus Furcht vor der Beerdigung im Scheintod wünschen, darf nur vollzogen werden, wenn er nicht T.shandlung ist, d.h. wenn schon untrügl. Zeichen des eingetretenen Todes vorhanden sind.

Manche Mordtaten werden dadurch schwerer (qualifizierter Mord), daß sich mit ihnen andere Verstöße gegen die sittl. Ordnung (die Ordnung der Liebe) verbinden, z.B. Vatermord, Brudermord, Raubmord.


2. Der Achtung vor dem Lebensrecht des Mitmenschen widerspricht auch die leichtfertige Gefährdung seines Lebens. Wenn durch diese sein Tod herbeigeführt wird, unterscheidet sich diese T. zwar durch das Fehlen der T.sabsicht nicht unwesentl. vom Mord; schuldig wird der Tötende aber dadurch, daß er die Gefahr ungerechtfertigt heraufbeschwört. Ein Verhalten, das unbeabsichtigt, aber vorausgesehen od. vorausgeahnt den Tod eines Menschen zur Folge hat, wird als indirekte T. bezeichnet. Musterbeispiele für sittl. unzulässige indirekte T. sind der Totschlag (die tatsächl., wenn auch nicht beabsichtigte T. eines Menschen durch eine in feindseliger Absicht gesetzte Handlung) u. die fahrlässige T. (die aus einer Handlung od. Unterlassung folgt, deren Gefährlichkeit leicht zu erkennen ist).

Nach dem Modell der Handlung mit zweierlei Wirkung ist dem Tötenden zwar zugute zu halten, daß er nicht in Tötungsabsicht handelt. Schuldig wird er dennoch, wenn die Handlung, durch die er die Gefahr schafft, sittl. nicht einwandfrei ist, od. wenn er zu ihrer Setzung nicht durch einen guten Grund bewogen wird, der im Verhältnis zur gewagten Gefahr triftig genug ist.


3. Damit ist schon angedeutet, daß nicht selten ein gewisses Wagen von Gefahr für das Leben des Mitmenschen verantwortet werden kann. Allg. trifft dies zu, wenn der Handelnde die Gefahr nicht in T.sabsicht u. auch in keiner anderen schlechten Absicht heraufbeschwört, sondern zur gefahrbringenden Handlung durch einen Grund bewogen wird, der im Hinblick auf die Höhe der Gefahr als triftig genug erscheint. Hinsichtl. der Gefahr besteht ja ein großer Spielraum zw. Handlungen, die im allg. keine od. fast keine Gefahr bringen, u. Handlungen, die fast od. ganz sicher tödl. wirken; alle Gefahren meiden kann man gar nicht.

Solche Überlegungen sind etwa vom Arzt anzustellen, der in Forschung u. Behandlung gewisse Gefahren für seine Patienten wagen muß. Wollte man ihm dies verbieten, so würde man die wissenschaftl. Forschung stillegen u. die Patienten selbst schädigen. Natürl. ist der Arzt verpflichtet, das Gefahrenmoment gewissenhaft abzuschätzen u. zu fragen, ob der zu erwartende Nutzen das Wagnis rechtfertigt. Ein noch nicht genügend erprobtes Mittel etwa, mit dem Gefahren verbunden sind, darf er nur bei Versagen aller anderen Mittel u. mit Zustimmung des Patienten od. der für ihn Verantwortlichen heranziehen (vgl. Pius XII., UG 2285 5366-68 5424).

Wer am Straßenverkehr teilnimmt, muß sich fragen, ob er dazu genügend gerüstet ist, so daß er für seine Mitmenschen nicht unverantwortbar große Gefahren schafft.


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