Wahlpflicht
Karl Hörmann
Lexikon der christlichen Moral

LChM 1969, Sp. 1313-1315


Ob der moderne Staat zum Besten des Volkes wirkt, hängt weitgehend davon ab, wem die Staatsgewalt in die Hand gelegt wird. In den demokratischen Staaten nimmt das Volk auf die Übertragung dieser Gewalt in Wahlen Einfluß. Wer das Wahlrecht hat, auf dem liegen unbekümmert darum, ob ihn das staatl. Gesetz zur Ausübung dieses Rechtes verpflichtet od. nicht, sittl. Pflichten, die er nach bestem Wissen und Gewissen erfüllen soll.

Der Verantwortung, die mit dem Wahlrecht auf seine Schultern gelegt ist, soll er durch Teilnahme an der Wahl gerecht zu werden trachten. Das gehört eben zu den dem Staatsbürger abgeforderten Beiträgen zum Gemeinwohl. Durch verantwortungsbewußte Ausübung des Wahlrechtes eine gute Entwicklung des Staatslebens vorzubereiten ist weitaus besser als einer schon eingetretenen Fehlentwicklung Widerstand leisten zu müssen (Pius XI., "Firmissiman constantiam", AAS 1937, 198). Je mehr v. einer Wahl für die Gestaltung des staatl. Lebens abhängt, umso schwerer sind die einzelnen Bürger zur Teinahme verpflichtet; heute darf man wohl keine der Wahlen im staatl. Bereich als unwichtig ansehen (Pius XII., UG 180 1321 1454 2807 2827 4121 4305 [DRM XIV 540 f, IX 230, VIII 81.19, X 21, VIII 105, XVI 463 f]). Entsprechend triftige Gründe lassen aber die Pflicht zur Teilnahme nicht drängend werden.

Selbstverständl. soll der Wahlberechtigte nicht nur an der Wahl teilnehmen, sondern auch eine gewissenhafte Entscheidung treffen (Pius XII., UG 2828 [DRM X 21]). Dazu muß er die Programme u. das bisherige Verhalten der wahlwerbenden Parteien, aber auch das Wissen u. Können, die Grundsätze u. den Charakter der sich anbietenden Kandidaten prüfen. Mit der Wahl billigt der Wähler im großen u. ganzen die Grundsätze u. das Verhalten des Gewählten, so daß er für sie u. ihre Auswirkungen auf das Gemeinwohl in einem gewissen Grad mitverantwortl. wird. Bei Wahlen können allerdings Kompromißlösungen notwendig werden: Weil keiner der zur Wahl stehenden Kandidaten voll befriedigt, darf man (unter dem Gesichtspunkt des kleineren Übels) aus ihnen den wählen, der die wenigsten Mängel hat; weil von einem Kandidaten in einer Hinsicht größerer Nutzen für das Gemeinwohl zu erwarten ist, darf man ihn wählen, obwohl er in anderer Hinsicht Mängel aufweist (Handlung mit zweierlei Wirkung; vgl. Anrechenbarkeit); weil sich auf einer Liste geeignete Kandidaten finden, darf man für sie stimmen, obwohl sie auch weniger geeignete aufweist (Handlung mit zweierlei Wirkung; wünschenswert sind natürl. Wahlsysteme, die ein Herankommen an die als geeignet erscheinenden Personen ermöglichen).


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